Aus der Zeit gefallene Kunstkammer in Paris

  • GEHEIMNISVOLLES MUSEUM: Aus der Zeit gefallene Kunstkammer in Paris

    VON PETER KROPMANNS


    Selbst erfahrenen Parisbesuchern oft unbekannt: Das Musée d’Ennery mit seinen fesselnden Asiatika und anderen Beständen


    Hasen mit Bernsteinaugen gibt es unter den 7000 Objekten gleich mehrere: Das Pariser Musée d’Ennery ist eines der unbekanntesten, doch faszinierendsten Museen der französischen Hauptstadt.


    In den vergangenen Jahrzehnten war das an der Porte Dauphine im Pariser Westen gelegene Musée d’Ennery zum Phantom geworden – nämlich erst wegen Baufälligkeit, dann Sicherungsarbeiten geschlossen oder nur phasenweise zugänglich. Seit Kurzem ist es wieder zu besuchen, nach langfristiger Terminvereinbarung und Anmeldung für eine samstägliche Führung. Eine solche bietet eine Zeitreise zu einem Gesamtkunstwerk der Belle Époque, bei der die verblüffende Inszenierung fernöstlichen Kunsthandwerks zu sehen ist, die auf die Sammlerin Clémence d’Ennery (1823–1898) zurückgeht. Sie selbst betrachtete ihre Kollektion – Vasen und Schalen, Lackarbeiten, Masken, Statuetten und Miniaturen aus Holz, Stein, Metall oder Keramik, die Menschen, Tiere, Gottheiten oder Ungeheuer darstellen – als ein „schönes Spektakel“ und „Gedicht aus Farben“.


    Das Hôtel d’Ennery, ein Stadtpalais an der zum Bois de Boulogne führenden Avenue Foch, und sein Museum haben ein eigenes Verhältnis zu Raum und Zeit. So vergingen nach dem Tod der Stifterin und kurz darauf dem ihres Mannes, die den Staat als Erben eingesetzt hatten, sowie der Anfechtung des Testaments zehn Jahre, bis das Musée d’Ennery unter dem Kurator Émile Deshayes Kontur gewann und 1908 eröffnet werden konnte. Heute präsentiert sich das Haus bei auf nur zehn Teilnehmer begrenzten Führungen in französischer Sprache als eine mehr oder weniger unverändert gebliebene Folge von Kuriositätenkabinetten, die mit altertümlich wirkenden Wand- und Standvitrinen vollgestellt sind. Einige dieser Möbel stammen von Ebenist Ga­briel Viardot, der sich mit Kunstschreinerei in fernöstlichem Stil einen Namen gemacht hatte.


    Doch beginnen wir im Vestibül. Denn hier begrüßt die Porträtbüste des Hausherrn und Museumsstifters, des Journalisten, Romanciers und Dramaturgs Adolphe Philippe d’Ennery. Dabei wurde die stattliche Neorenaissance-Villa 1875 nicht von ihm, sondern von seiner Lebensgefährtin Joséphine Clémence Desgranges erbaut, die er 1881, nachdem sie zur Witwe geworden war, heiratete. Ein Trauzeuge war übrigens Jules Verne. Während Monsieur d’Ennery eine zweite Büste auf der Beletage ehrt, ist von Madame im ganzen Haus kein einziges Bildnis zu sehen. Mehr noch: Adolphe d’Ennery, der erfolgreiche Autor, hat zwar das Zustandekommen der Kollektion, mit der sich das Haus zunehmend, um nicht zu sagen schwindelerregend füllte, begleitet, aber ganz seiner vermögenden und Eigenständigkeit gewohnten Frau überlassen. Weil er sie überlebte und als Stifter auftrat, hat die Nachwelt sie aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt.



    Allein die Jade-Kollektion ist staunenswert: Der Saal mit den geschnitzten Löwen im Musée d’Ennery :Bild: Vincent Leroux


    Dabei ging ihre mit in die Ehe gebrachte Passion für vorwiegend chinesische und japanische Kostbarkeiten auf die Vierzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts zurück. Als sie noch Lecarpentier, dann Desgranges hieß und in der Rue de l’Échiquier bei den Grands Boulevards lebte, hatte sie wenigen, aus Familienbesitz übernommenen Stücken bereits Neuerwerbungen zur Seite gestellt. Die Sammlerin, die nie nach Asien reiste und alles im Pariser Kunsthandel, etwa bei Siegfried Bing, und bei Auktionen ersteigerte, dürfte fortan Liebhabern fernöstlicher Kunst zum Begriff geworden sein. Sie war sogar möglicherweise deren Anregerin, so der Brüder Goncourt, deren Auseinandersetzung mit der Kunst Asiens in den Sechzigern des neunzehnten Jahrhunderts einsetzte. 1859 zählte Jules de Goncourt zu den Besuchern ihrer noch überschaubaren Kollektion. Nach seiner Visite notierte er: „Einer der eigenartigsten Salons der Welt. Auf Regalen, die am Teppich beginnen und ihre Pagodendächer in die Luft heben, herrscht eine Menagerie der Phantasie. Weiße, grüne, schwarze, blaue, mehrfarbige Monster, sämtliche einem Opiumrausch entstammenden Chimären . . .“.


    Viele der geheimnisvollen Wesen ähneln Gestalten von Hieronymus Bosch

    Mit diesen Worten beginnt der Literat eine Beschreibung der damals etwa 150 Stücke umfassenden Sammlung. Sie offenbaren Faszination, aber auch Verlegenheit, die Vielfalt des Gesehenen zu verstehen und Analogien zu formulieren. So fühlte er sich zwar an vorsintflutliche Gestalten oder Fabelwesen und Wappentiere erinnert, nicht aber an die Schrecken einflößenden Darstellungen von Hieronymus Bosch. Dabei kommen beim Blick in manche Vitrine heute gerade die bizarren Wesen des um 1500 tätigen Niederländers in den Sinn. Später waren Sammler wie Émile Guimet und möglicherweise auch der Kritiker und Sammler japanischer Farbholzschnitte, Philippe Burty, sowie die Kunsthändlerin Florine Langweil, Pionierin in einer Männerdomäne, zu Gast.


    Clémence d’Ennery begeisterte sich für Objekte aus Bronze, Jade oder seegrüne Ware, die sich bereits in der Epoche der Chinoiserien großer Beliebtheit erfreute: Seladon-Keramik. Vor allem interessierten sie Netsuke, von denen sie über zweitausend erwarb, geschnitzte Miniaturfiguren, die sich ursprünglich als dekoratives Accessoire für Kimonos großer Beliebtheit erfreuten. Weil diese ohne Taschen genäht waren, erfand man ein kleines, am Gürtel hängendes Behältnis für kleine Objekte, das mit einer Kordel und einer Arretierung – einem Netsuke – befestigt wurde. In den vergangenen Jahren hat es ein solches über den Titel des der Familie Ephrussi gewidmeten Buches von Edmund de Waal in internationale Bestsellerlisten geschafft: „Der Hase mit den Bernsteinaugen“.


    Die nebst zwei kleinen Räumen vier großen Säle beherbergen über sechstausend Objekte, die laut Testament nicht bewegt, also auch nicht entliehen werden dürfen. Hier ist die Zeit stehen geblieben: Klitzekleine, sorgsam in die Vitrinen gelegte, mit Tinte in Schönschrift ausgeführte Objektschildchen wohl von 1908 erläutern Exponate; Saaltexte sind ebenso abwesend wie Audioguides oder Touchscreen-Monitore, es gibt weder eine Kasse noch eine Boutique oder ein Café. Wann das dem Museum für asiatische Kunst Musée Guimet administrativ unterstellte Musée d’Ennery in unserem Jahrhundert ankommt, steht in den Sternen. Es heißt, mindestens 15 Millionen Euro seien zu investieren; man erhofft sich Mäzene. Priorität hat ein neues Dach, wie ein in den letzten Saal gestellter Eimer verrät. Ach, könnte es doch Geld regnen.


    Musée d’Ennery. 59, Avenue Foch, 75116 Paris. Seit Kurzem ist es wieder zu besuchen – nach Terminvereinbarung und Anmeldung für eine Führung am Wochenende. Reservierungen: https://billetterie.guimet.fr/fr-FR/produits.


    Quelle: https://www.faz.net/aktuell/fe…dArticle=true#pageIndex_2