Das Raumschiff ist ein Traumschiff – von der Arche Noah bis zur «Enterprise»

  • Die Faszination für phantastische Kapseln, Raumfähren und Luftschiffe nährt sich vom Wunsch, der Welt zu entfliehen. Und jede Nacht begeben wir uns im eigenen Bett auf solche Eskapaden.

    Philipp Meier |03.01.2024


    Dinnerparty in der «Nautilus» 20 000 Meilen unter dem Meer: mit James Mason (links außen) als Kapitän Nemo und Kirk Douglas (Mitte) als Harpunier.

    Corbis / Getty


    Ein paar zusätzliche Kissen reichten vollauf. Den Rest besorgte die Imagination. Und los ging es. Das Kinderbett wurde zum fliegenden Schiff, zum Flugzeug, zum Raumschiff. Und das Abenteuer hatte immer dieselbe Mission: ab in die Sphären der Phantasie. Die beiden Freunde von der TV-Gutnachtgeschichten-Serie «Ernie und Bert im Land der Träume» machen es jeden Abend so. Vor dem Schlafengehen wird das Nest zum geflügelten Gefährt für den Himmelsritt in unbekannte Welten.


    Ob die hohe See, der endlose Himmel oder gleich das Weltall. Alles ist den beiden recht. Und in der kindlichen Phantasie auch hundertprozentig echt. Realer jedenfalls als die ziemlich theoretisch anmutende, aber für uns tägliche Praxis, auf unserem Planeten durchs All zu rasen. Wir bekommen das gar nicht mit. Aber man stelle es sich bloß einmal vor: Das Raumschiff Erde ist auf seiner Umlaufbahn um die Sonne mit einer Geschwindigkeit von 100 000 Sachen unterwegs. Hinzu kommt die tägliche Drehung um die eigene Achse: mit 1000 km/h, dass es einem schlecht wird.


    Die Erdanziehungskraft macht diesen Taumel allerdings zunichte. Oder lässt Schwindelgefühle schon gar nicht erst aufkommen. Zudem ist unser Planet ein ungeeignetes Traumvehikel. Nicht nur dreht es sich im Kreis. Ziemlich verloren nimmt sich der blaue Planet aus im unwirtlichen Schwarz des endlosen Raums. Minus 270 Grad Celsius herrschen im Universum. Die Erdenbürger aber brauchen Geborgenheit wie einst im Mutterschoß. Warme Decken und flauschige Kissen – oder noch besser: eine Kapsel, eine Raumfähre.


    Die «Discovery One» auf geheimer Mission durch das All: aus Stanley Kubricks «2001: A Space Odyssey» von 1968.

    Everett Collection / Imago


    Solche Gefährte sind echte Uterus-Phantasien. Raumschiffe aller Art lassen uns von anderen Welten träumen. Denn Traumschiffe verheißen abenteuerliche Eskapaden. Eine «Discovery One» in Stanley Kubricks legendärem Science-Fiction-Film «2001: A Space Odyssey» von 1968 versprach sogar eine Reise zu göttlicher Transzendenz. Ziel war ein geheimnisvoller Monolith, der alle Geheimnisse lüften sollte. Kubricks enigmatisches Monumentalwerk wurde auch schon als Ausdruck der Hoffnung interpretiert, jenseits des Unendlichen eine bessere Welt zu finden.


    Auf der Suche zumindest nach neuen Welten drang in den sechziger Jahren die «Enterprise» der Kultserie «Star Trek» in Galaxien vor, die noch nie ein Mensch gesehen hatte. Sternzeit 1513,1 – man schrieb das Jahr 2266. Und in den 79 Folgen kehrte die Besatzung um den «Beam me up, Scotty»-Captain Kirk und den teuflisch-intelligenten Vulkanier Mr. Spock kaum je mehr auf die viele Lichtjahre entfernte Erde zurück.


    Unterwegs, um neue Welten zu erforschen: das Raumschiff «Enterprise».

    United Archives / Imago


    Mit an Bord: der teuflisch-intelligente Alien Mr. Spock.

    CBS / Getty


    Die irdischen Übel wie Krieg und Ungerechtigkeit hat man hinter sich gelassen. Nationalismen, Rassismus und Sexismus gibt es für die fortschrittliche «Star Trek»-Gemeinschaft nicht mehr. Neben einem russischen Offizier und einem asiatischen Navigator ist auch eine schwarze Kommunikationschefin mit auf der Brücke. Machtstreben und Gier sind Triebkräfte einer Menschheit von gestern, Religion gilt als rückständig. Der Gral oder das Goldene Vlies, nach dem schon Jason und die Argonauten auf ihrem schnellen Schiff Argo suchten, ist für die Besatzung der «Enterprise» Erkenntnis.


    Das Erreichen eines solchen Ziels aber will Ewigkeit. Die Reise durch die Milchstraße ist ohne Ankunft und Ende. Traumverloren gleitet die stylisch-weiße Untertasse mit den drei Triebwerken durch die unendlichen Weiten eines Sternenmeers, aus dem es kein Erwachen mehr zu geben scheint.


    Nicht vorgesehen ist eine Rückkehr im Sci-Fi-Thriller «Voyagers» von 2021. Denn der Spaceshuttle «Humanitas» ist ein Kolonisations-Raumschiff mit klarem Ziel: dafür bestimmt, in der Utopie anzukommen. Die Besatzung besteht aus dreißig Retortenbabys, gezüchtet aus dem Erbgut besonders intelligenter und schöner Menschen. Sie sollen sich auf der großen Überfahrt fortpflanzen, damit einst deren Enkel den verheißungsvollen Zielplaneten erreichen.


    U-Boot und Luxusdampfer

    Für die Flucht aus dem Diesseits tut es manchmal aber auch schon ein U-Boot. Ein eskapistischer Traum noch vor seiner technischen Realisierbarkeit war Kapitän Nemos Unterseeboot «Nautilus» in Jules Vernes «20 000 Meilen unter dem Meer». Die phantastische Taucher-Zigarre, wie sie sich der Daniel Düsentrieb der französischen Science-Fiction-Literatur ausgemalt hatte, wurde in Walt Disneys Verfilmung ausgeschmückt mit einem markanten Zackenkamm auf der Oberseite.


    Das schwimmende Refugium auf Tauchstation bot Nemos geheimnisvoller Mannschaft – Aussteigern und Utopisten aller Art, die wie der Kapitän selber mit der Menschheit auf der Erdoberfläche gebrochen hatten – Asyl. In den Tiefen der Meere sollte es besser sein. In der «Nautilus» war für puren Luxus gesorgt: Neben Kajüten mit Badezimmer, einem Speisesaal, einer Bibliothek mit 12 000 Büchern und einem Kartenraum gab es sogar einen Salon mit Orgel, naturwissenschaftlichen Sammlungen und einer Kunstkollektion.


    Filmplakat zum Disney-Film «20 000 Meilen unter dem Meer» von 1954.

    Universal History Archive / Getty


    Kapitän Nemo (James Mason) begibt sich zur «Nautilus», um der Welt für immer den Rücken zu kehren.

    Bettmann / Getty


    Und Nemo hatte eine Mission: Er kehrte der Welt den Rücken, um als Rächer der Entrechteten die Weltmeere unsicher zu machen. Jules Verne feierte mit seinem Tiefsee-Abenteuer den Triumph der Technik über die Natur. Die große Utopie ließ er allerdings in ihrem Gegenteil, der Katastrophe, enden. Der gegen die Naturgesetze revoltierende Kapitän wird mitsamt seinem U-Boot vom Strudel eines Mahlstroms verschluckt.


    Eine große Flut war die Katastrophe, die den Anlass gab für die biblische Weltflucht auf der Arche Noah. Auf zu neuen Ufern ging es mit einem aus Zypressenholz gebauten Kahn von 133 Metern Länge. Das ist immerhin halb so lang wie die «Titanic». Auf der Sintflut treibend, soll die Arche Noah am Berg Ararat angelegt haben, ohne leckzuschlagen. Gefunden wurde sie nie.


    Im Gegensatz zur «Titanic», dem Schiff der Träume, die an einem Eisberg zerschellten. Dass die Fahrt in die Neue Welt Richtung Freiheitsstatue scheiterte, lag vielleicht nicht nur am blinden Fortschrittsglauben an die Unsinkbarkeit des Luxusdampfers. Von metaphorischer Ebene aus betrachtet, wurden die Probleme der Alten Welt mit eingeschifft. Die unüberwindbare Kluft der Klassen war ebenso an Bord wie die Illusion der romantischen Liebe. So schildert es James Camerons legendäres Filmepos.


    Angelegt am Berg Ararat: die Arche Noah, wie sie sich Simon de Myle im Jahr 1570 ausmalte.

    Heritage Images / Hulton Archive / Getty


    Unheimliche Raumstation

    Wo die Probleme mitreisen, wird die Utopie bald zum dystopischen Albtraum. Mit der Weltflucht ist es auch nicht weit her im traumwandlerischen Science-Fiction-Film «Solaris». In der Raumstation im Orbit um den Planeten Solaris tauchen Menschen auf, die den eigenen Erinnerungen der Besatzung entsteigen. Traum und Wirklichkeit greifen gespenstisch ineinander.


    Die in den siebziger Jahren nach dem gleichnamigen Kultroman von Stanislaw Lem verfilmte Version von Andrei Tarkowski war die sowjetische Antwort auf Kubricks «2001: A Space Odyssey». 2002 wurde der Stoff nochmals von Steven Soderbergh aufbereitet – mit Starbesetzung George Clooney.


    «Bin ich am Leben oder tot?», fragt Clooney seine verstorbene, aus der Vergangenheit zurückgekehrte Frau. In solchen Kategorien zu denken, erübrige sich nun, gibt sie zur Antwort. Tod und Leben sind eins, weil es auch Vergangenheit und Zukunft geworden sind. Der Weltraum ist zum All ewiger Gegenwart geronnen.


    Ein Raumschiff, in dem einem sein Alter Ego als unheimlicher Doppelgänger begegnet – das ist nicht selten die Traumkapsel des eigenen Bettes. In nächtlichen Träumen werden wir mit unserem eigenen Bewusstsein konfrontiert. Das kann bisweilen ziemlich abenteuerlich sein. Lediglich 90 Minuten lang dauert die Tiefschlafphase, in der die Vielstimmigkeit des Tages in einem gleichgeschalteten Rhythmus der Hirnstromwellen verklingt. Dann aber beginnt die berüchtigte REM-Phase: Die Abkürzung steht für Rapid Eye Movement.


    Im sogenannten Traumschlaf ist das Gehirn hyperaktiv und projiziert die wildesten Dinge auf unsere innere Leinwand. Wir sehen Bilder überscharf und Farben greller als sonst. Wir laufen, fahren, fliegen und fallen und werden durch Geschehnisse voller Furcht und Flucht gejagt.


    Wir seien nicht Herr im eigenen Haus, hat schon der Traumdeuter Sigmund Freud festgestellt. Im Traumerleben sah er eine Kompensation all dessen, was das Tages-Ich für gewöhnlich unter seiner rigiden Kontrolle hält.


    Nachts, wenn wir einschlafen, übernimmt also Käpten Nemo das Steuer. Und taucht auf seiner Mission, all das verdrängte Wünschen und Wollen zu rächen, ab in die Untiefen der Träume. Im Gegensatz zur «Nautilus», die nie wieder auftaucht, oder zur «Enterprise», die noch heute durch den endlosen Raum schwebt, gibt es für uns Traumpassagiere aber immerhin die allmorgendliche Rückkehr des Erwachens.


    Plakat zu Andrei Tarkowskis «Solaris»-Verfilmung von 1972.

    Mary Evans Picture Library / Imago


    Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/…zur-enterprise-ld.1772432