Eugène Vidocq

  • Eugène Vidocq


    Gut getarnt

    Er war der erste Detektiv der Welt: Das abenteuerliche Leben des Mannes, der vom Gauner zum Chef der Geheimpolizei von Paris wurde.

    Von Tom Kroll

    11. Oktober 2023

    AUS DER ZEIT NR. 43/2023


    Eugène François Vidocq war ein Meister der Verkleidung – und überführte dadurch viele Verbrecher. © Johanna Knor für DIE ZEIT


    Es gibt ein englisches Sprichwort, das perfekt zu dieser Geschichte passt: To catch a thief you must think like a thief – auf Deutsch heißt das: Um einen Dieb zu fangen, musst du denken wie ein Dieb. Genau das tat ein Mann, der auch der erste Detektiv der Welt genannt wird: Sein Name war Eugène François Vidocq.


    Vidocq wurde in einer Nacht im Juli des Jahres 1775 in Arras im Norden Frankreichs geboren. In dem Buch, das er selbst später über sein Leben schrieb, heißt es, dass damals ein Gewitter über das Städtchen zog. Blitze erhellten die Nacht, Donner grollte, und die Hebamme soll zu Eugènes Eltern gesagt haben, dass das Leben des Jungen wohl so stürmisch verlaufen werde wie die Nacht, in der er geboren wurde.


    Als Vidocq 82 Jahre später starb, war er eine Berühmtheit. Er hatte die französische Kriminalpolizei gegründet, die später zum Vorbild für die beiden berühmtesten Polizeibehörden der Welt, das britische Scotland Yard und das amerikanische FBI, wurde. Und der Schriftsteller Arthur Conan Doyle erfand seinen berühmten Detektiv Sherlock Holmes nach dem Vorbild des Franzosen. Vidocq muss also ein ausgezeichneter Ermittler gewesen sein. Zunächst war er aber ein ausgezeichneter Gauner.


    Der jugendliche Vidocq wird als Faulenzer und Schulschwänzer beschrieben, der gerne mit anderen Jungen raufte. Seine Eltern hatten eine Bäckerei und wünschten sich, dass der Sohn den Laden übernimmt. Der aber vertrieb sich seine Zeit lieber in der Kaserne, um von den Soldaten das Fechten zu lernen. Und er begann früh, Alkohol zu trinken und zu stehlen.


    Eine Geschichte aus Vidocqs Jugend, die oft erzählt wurde, geht so: Als 14-Jähriger schlich er nachts in die Bäckerei der Eltern und klaute 2000 Franc – so hieß damals das französische Geld – aus der Kasse. Mit einem Freund wanderte er 100 Kilometer weit in das belgische Hafenstädtchen Ostende. Von dort wollte er mit dem Schiff nach Amerika reisen und ein Leben im Wilden Westen beginnen. Doch stattdessen betrank er sich in einer Kneipe und wurde ausgeraubt. Er schämte sich sehr und traute sich nicht zu seinen Eltern zurück. Zumindest nicht gleich. Nachdem er ein paar Monate mit einer Zirkusgruppe umhergezogen war, tauchte er doch wieder in Arras auf. "Mein Vater spie Feuer und Flammen, aber dann willigte er ein, mich wieder in Gnaden aufzunehmen", erinnerte sich Vidocq später.


    Sein wildes Leben gab er allerdings nicht auf. In Arras duellierte er sich mit anderen Männern, wurde immer wieder von der Polizei festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Im Jahr 1796 wurde er dann zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, weil er Dokumente gefälscht hatte. Doch ihm gelang der Ausbruch.


    Wie, ist bis heute nicht geklärt. Sicher ist aber, dass Vidocq sich nun ständig vor der Polizei verstecken musste und begann, sich zu verkleiden. Mal zog er sich Frauenkleider an, mal gab er sich als Matrose aus, einmal entkam er der Polizei als Nonne. Er lebte in dieser Zeit von Betrügereien und Diebstählen.


    Eine Zeit lang versuchte er offenbar, auf ehrliche Weise sein Geld zu verdienen. Jedenfalls führte er im Jahr 1809, da war er 34, zusammen mit einer Frau in Paris ein kleines Geschäft. Zur Tarnung hatte er sich einen falschen Namen gegeben. Doch nach acht Monaten flog er auf – zwei andere Gauner erkannten und erpressten ihn: Vidocq solle ihnen Schweigegeld zahlen oder Diebesgut für sie verkaufen, sonst würden sie ihn der Polizei ausliefern.


    Vidocq machte die Stadt zu einer der sichersten der Welt

    Es wäre typisch für Vidocq gewesen, nun wieder alles hinter sich zu lassen und abzuhauen. Doch er entschied sich anders. Er schrieb einen Brief an den Pariser Polizeichef und bot ihm einen Handel an: Vidocq würde als Spitzel für die Polizei ins Gefängnis gehen. Wenn es ihm so gelänge, Verbrechern auf die Spur zu kommen, dürfe er selbst früher aus der Haft. Der Polizist willigte ein – und Vidocq wurde als Spion ins Pariser Gefängnis gesteckt.


    Mit großem Erfolg! Weil er selbst so lange ein Gauner war, vertrauten die anderen Häftlinge ihm schnell und plauderten allerlei aus, was Vidocq an die Polizei weitergab. Nach nicht einmal zwei Jahren waren 200 Kriminalfälle aufgeklärt, behauptete Vidocq später.


    Nach 21 Monaten wurde er aus dem Gefängnis entlassen und setzte seine Arbeit als Geheimpolizist fort. Mit seinem verdeckten Einsatz hatte er nämlich einen neuen Beruf erfunden: Er gründete eine Einheit bei der Polizei, die im Geheimen ermittelte. Statt in Uniform durch Paris zu patrouillieren und Verbrecher auf frischer Tat zu ertappen, mischte sich Vidocq in normaler Kleidung unter die Verbrecher der Stadt. Er soll auch der Erste gewesen sein, der Verdächtige beschatten ließ.


    Schnell bekam er Geld von der Stadt, um weitere Polizisten anzustellen, die wie er getarnt durch die Stadt streiften. Seine künftigen Angestellten suchte er unter seinesgleichen: Vidocqs Einheit zählte bald 28 Mitarbeiter; alle hatten schon im Gefängnis gesessen oder Geldstrafen aufgebrummt bekommen. Sie wussten bestens, wie sie sich unter Verbrechern verhalten mussten.


    Vidocq führte bei der Pariser Polizei nicht nur das verdeckte Ermitteln ein, sondern auch ein neues System mit Karteikarten. Darauf listete er ihm bekannte Verbrecher auf, notierte ihre Tarnnamen und ihr Aussehen. Außerdem schrieb er auf, wie sie ihre Verbrechen üblicherweise begingen. Denn Vidocq wusste aus eigener Erfahrung, dass die meisten Verbrecher immer auf dieselbe Arten raubten, betrogen und stahlen. So konnte er mit seinem Team auch Fälle aus der Vergangenheit lösen und die Verbrecher Jahre nach der Tat hinter Gitter bringen.


    16 Jahre war er Chef der Pariser Geheimpolizei und machte die Stadt zu einer der sichersten der Welt. Dass dies ausgerechnet einem Gauner gelang, ist schon ein bisschen verrückt. Für Vidocq hätte man das Sprichwort wohl erweitern müssen: Um einen Verbrecher zu fangen, musst du denken wie einer – und auch so handeln.


    Quelle: https://www.zeit.de/2023/43/eu…rankreich/komplettansicht