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Als Kind hörte unser Autor dieselben Winnetou-Kassetten immer und immer wieder. Jahre später begegnen ihm die Hörspiele bei einem Streaming-Anbieter – und alles ist anders. Über die Macht von Geschichten auf Magnetband und die heilende Wirkung von Nostalgie.
Von Simeon Koch
Hörspiele auf Kassetten übten auf unseren Autor lange Zeit eine besondere Faszination aus.
Foto: GettyImages/Pablo Jeffs Munizaga
Und dann starb er. Vor meinen Augen durschlug die Kugel seine Brust. Abgefeuert aus dem Gewehr eines Verbrechers, von dem ich schon vorher wusste, dass er sein Mörder sein würde. Ich sah seine Schultern beben wie im Fieber. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Vielleicht war es auch das Badewasser aus dem Handtuch, das auf meinem Kopf thronte wie ein Federschmuck aus feuchtem Frottee. Ich roch Blut und schmeckte die Süße des halb zerronnenen Schokoladenstückchens, das ich in der Hand nach oben geschmuggelt hatte, um es noch vor dem Schlafengehen heimlich zu essen.
Der Arzt verband ihn. Aber es war zu spät. Genauso war es auch das letzte Mal gewesen. Gestern Nachmittag nach dem Kaffee mit Oma. Und davor schon so oft, dass ich seine Tode nicht mehr zählen konnte. Ich lehnte mit dem Rücken am holzverkleideten Lautsprecher unserer alten Stereoanlage und spürte tiefe Traurigkeit, die sich in mich bohrte wie die Kugel in Winnetous Brust. Wieder einmal musste ich diesen unvergleichlichen Indianerhäuptling gehen lassen, der auf seinem schwarzen Hengst durch mein Ohr in mein Herz geritten war. Die Kassette knarzte und knackte, dann war es vorbei.
Ein Erwachsenwerden später fand ich beim Aufräumen auf dem Dachboden die Holzkiste wieder, in der ich vor Jahren meine alten Kassetten eingemottet hatte. Im Abendlicht sah ich die Gesichter meiner Kindheitshelden auf den vergilbten Titelbildern. Das Klappern der Hüllen versetzte mich zurück in eine Zeit, in der ich nichts von der Welt kannte als die immergleichen Abenteuergeschichten. In der ich dieselben paar Kassetten wochenlang rauf- und runterhörte und dabei alles fühlte, was ich mir vorstellen konnte. Alles bis auf den Überdruss, der mich heute verfolgt, wenn ich abwesend durch Streaming-Mediatheken scrolle.
Mit einem Wisch kann ich mehr Geschichten erleben, als ich mir früher in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hätte. Und mehr als ich heute ertrage. Auf Spotify gibt es jede Winnetou-Episode in unzähligen Ausführungen. Als ich die App auf meinem ersten Smartphone installierte, suchte ich zuallererst nach meinem Idol. Ich sah die ersten hundert Suchergebnisse über den Bildschirm wandern, da verging mir die Lust. Früher gab es nur einen Winnetou, den echten eben. Heute spricht er mit hundert verschiedenen Stimmen, die Geschichten sind umgeschrieben, die Titelmelodien generisch und die Geräusche kommen aus schlechten Soundkonserven. Wenn Winnetou irgendwann in mir starb, dann war es, als er mir auf Spotify begegnete. Nicht die Kugel des Banditen hat ihn erledigt – sondern seine unzähligen schlechten Kopien, die mich heute auf Streaming-Portalen heimsuchen.
An diesem Abend auf dem Dachboden starrte er vorwurfsvoll aus der Kassettenkiste, als nähme er mir übel, dass ich nie Lebewohl gesagt hatte. Ich sah mich wieder mit zehn Jahren im Wohnzimmer sitzen. In meiner Brust zog sich etwas zusammen. Warum reichte mir damals eine Handvoll Kassetten, um glücklich zu sein? Die Geschichten meiner Kindheit verdienten einen würdigen Abschied. Und dafür musste ich verstehen, wo ihr Zauber hin war.
Meine Suche beginnt dort, wo alles angefangen hat. Als meiner Schwester und mir mit sechs Jahren die Lust auf Gutenacht-Geschichten von Mama und Papa verging, bekamen wir ein altes Kofferradio, vor dem wir jeden Abend saßen, um den »Ohrenbär« des rbb zu hören. Dort gab es vor dem Schlafengehen kleine Fortsetzungsgeschichten für Kinder. Noch heute muss ich daran denken, wie meine Schwester und ich das alte Radio anstarrten, wenn ich das federleichte Peter-Motiv aus »Peter und der Wolf« höre, das war damals das Intro. Ich rechne damit, dass die Sendung schon lange eingestellt wurde – und finde zu meinem Erstaunen die Website des »Ohrenbär« im Internet. Als ich mich durch die Seite klicke, stoße ich auf eine Folge über ein Mädchen namens Ida, das ihrer Tante dabei hilft, von einem Lastwagen voller Erinnerungen Abschied zu nehmen. Das passt wie die Kassette in den Rekorder. Ich schreibe den Autor an.
»Hörspiele dringen tief in Kinderseelen ein. Erwachsene hören nebenbei, Kindern hängen Geschichten tagelang nach«
Schriftsteller Guido Gin Koster
Zwei Wochen später treffe ich Guido Gin Koster in einem digitalen Konferenzraum. Er sitzt vor einem hohen Bücherregal und entschuldigt sich für die Tonqualität seines uralten Computers. Hörspiele schreibe er schon länger nicht mehr, schickt er voraus, die Künstlerfreiheit schwinde zusehends: »Geschichten werden kürzer und die Sprechrollen immer weniger, um zu sparen. Streaming-Dienste verlangen künstliche Spannungsbögen in immer kürzeren Abständen: Alle paar Minuten muss eine Leiche her, damit die Hörer dranbleiben. Da mache ich nicht mehr mit.«
Koster erzählt mir, dass deutsche Kinderhörspiele früher ein Refugium kreativer Köpfe waren, die unter der Stasi-Zensur litten: »Viele Redakteure aus dem Osten waren geschasste Theaterdramaturgen, die der DDR-Führung ideologisch nicht gepasst hatten. Da hieß es dann: »Ab ins Hörspiel«. Die größte Degradierung war: »Ab ins Kinderhörspiel«. So entstanden wunderbare Redaktionen mit Hörspielautoren, die einen enormen Freiheitsdrang hatten.«
Es überrasche ihn nicht, dass ich mich so intensiv an Hörspiele meiner Kindheit erinnere. Das geschehe aus demselben Grund, warum es so heikel sei, gute Geschichten für Kinder überhaupt erst zu schreiben: »Hörspiele dringen tief in Kinderseelen ein. Erwachsene hören nebenbei, Kindern hängen Geschichten tagelang nach. Kinderhörspiele haben mich immer nervöser gemacht als Geschichten für Erwachsene.«