- Offizieller Beitrag
Das Rätsel des Pferderippers: Als ein skandalöser Fall England erschütterte
Verletztes Pferd
Überlebt: Dieses Pferd wurde 1903 vom Ripper auf der Weide attackiert und schwer verletzt. An seinem Bein erkennt man noch den langen Schnitt, den die Klinge des Tiermörders hinterließ
© Staffordshire County Council: Archives & Heritage
von Insa Bethke
28.05.2024, 15:52
Im Jahr 1903 wurde der englische Ort Great Wyrley zum Schauplatz einer unheimlichen Verbrechensserie: Des Nachts schlitzte jemand Pferden die Bäuche auf. Der Ripper schien bald gefasst, doch der Fall entpuppte sich als ungeheurer Justizirrtum. Dass der vermeintliche Täter ein Opfer rassistischer Verleumdungen war, bewies am Ende niemand Geringeres als Arthur Conan Doyle – der Erfinder von Sherlock Holmes
Ein Pony in Todespein, das kastanienbraune Fell voller Blut. Aus einem klaffenden Schnitt in seinem Leib quellen Gedärme heraus. Mit letzten Kräften schleppt sich das Tier in der Nacht auf den 18. August 1903 über das Gelände der Great Wyrley Colliery Company, während heftiger Regen über die Zeche im County Staffordshire peitscht.
Um 5.45 Uhr bemerkt ein Minenarbeiter das verletzte Pony und ruft die Polizei. Die trifft rasch ein, denn mit diesem Fall scheint sich eine unheimliche Verbrechensserie fortzusetzen, die Great Wyrley seit Februar erschüttert: Binnen Monaten wurde mehreren Pferden, einem Schaf und drei Kühen mit einer scharfen Waffe die Bauchdecke aufgeschlitzt. "Village of Fear" nennt eine Zeitung den Ort längst – das Dorf, in dem Männer ihre Frauen und Kinder nicht mehr allein auf die Straße lassen und Bauern ihr Vieh abends in den Ställen einsperren.
Ein Tierarzt erlöst das Pony an diesem Morgen schließlich mit einem Schuss von den Qualen. Die Polizisten schneiden als Beweismittel ein Stück Haut aus dem Kadaver, dann machen sie sich wieder auf den Weg – und noch vor neun Uhr haben sie ihren Mann.
Porträt des Schriftstellers Arthur Conan Doyle
Krimi-Experte: Sir Arthur Conan Doyle erfand 1887 den Meisterdetektiv Sherlock Holmes und wurde dadurch berühmt. In Great Wyrley ging der gelernte Mediziner selbst auf Verbrecherjagd
© akg-images
Der 27-jährige Anwalt Georg Edalji, schicker Dreiteiler und Strohhut, ist gerade auf dem Weg in sein Büro in Birmingham, als ihn am Bahnhof von Great Wyrley ein Polizist auffordert, mit auf die Wache zu kommen.
Doch damit beginnt nicht die Aufklärung der vielleicht mysteriösesten Serie an Tierverstümmelungen, die es je gegeben hat - sondern ein von Rassismus und sturer Ignoranz gespeister Justizirrtum, der einen Unschuldigen auf Jahre hinter Gitter bringen und das Töten nicht stoppen wird.
Great Wyrley, 1875: Mit seiner Frau Charlotte zieht der neue Pastor Shapurji Edalji ins Pfarrhaus des Dorfes im County Staffordshire ein. Der in Bombay geborene Geistliche ist der erste Inder, der in England eine Gemeinde übernimmt – und der einzige in der vom Bergbau geprägten Region überhaupt.
Polizeifoto von George Edalji
Unter Verdacht: Der junge Anwalt George Edalji, ein Pfarrerssohn mit indischen Wurzeln, wurde von der Polizei im Sommer 1903 verhaftet. Die Ermittler waren sich sicher: Sie haben den Ripper
© Staffordshire County Council: Archives & Heritage
In einem Klima des Misstrauens gegenüber der indisch geprägten Familie wächst George in Great Wyrley als ältester Sohn von drei Kindern auf. Sein Vater ist unbeliebt bei lokalen Größen, weil er ihnen etwa bei Geschäften mit kirchlichem Landbesitz in die Arme fällt – doch er geht seiner Arbeit unverdrossen nach, bei der sich besonders für die Ärmsten einsetzt.
1888 aber, George ist zwölf Jahre alt, passieren unheimliche Dinge: Im Briefkasten der Familie tauchen erpresserische Briefe auf, an den Hauswänden mysteriöse Schmierereien. Die herbeigerufene Polizei ermittelt gegen das Hausmädchen der Familie, lässt es nach einer Verwarnung aber laufen.
Vier Jahre später verschickt jemand im Namen Shapurji Edaljis Postkarten, in denen der Pastor etwa, angeblich schwer krank, andere Pfarrer in der Region um Hilfe bittet. Auch Briefe mit Morddrohungen gegen Mitschüler seines Sohnes George kursieren. Dazu werden Waren, die sie nie bestellt hat, bei der Pastorenfamilie abgegeben, Exkremente und andere seltsame Dinge vor ihrer Haustür abgelegt. Schließlich erscheint in einem Lokalblatt gar eine Anzeige, in der sich die Edaljis als angebliche Urheber für die anonymen Drohbriefe entschuldigen.
Die Kirche von Great Wyrley
Die Kirche von Great Wyrley: Der Vater des Verdächtigen arbeitete als Pfarrer in dem mittelenglischen Dorf. Als erster Inder überhaupt hatte er in Großbritannien eine Pfarrstelle übernommen
© Staffordshire County Council: Archives & Heritage