Wenn man etwas über das Verhältnis von Jules Verne und Karl May nachforscht, so zeichnet sich ein einseitiges Bild. Karl May hat in den frühen Jahren seiner Schriftstellerkarriere nachweisbar einige Schriften Jules Vernes gelesen, entsprechend zeigen sich in einigen frühen Texten Mays auch der Einfluß dieser Lektüre. Umgekehrt hat Verne May wohl nicht gelesen, obwohl es dazu durchaus Gelegenheit gegeben hätte. So wurden einige Erzählungen Mays schon relativ früh ins Französische übersetzt, in der Zeitschrift 'Le Monde' (nicht identisch mit dem heutigen Blatt' erschien ab 1881 der erste Teil des Orientzyklus (entspricht 'Durch die Wüste', 'Durchs wilde Kurdistan' & Von Bagdad nach Stambul' sowie einige weitere kleinere Geschichten, welche zwischen 1884 und 1887 sogar in einer kleinen sechsteiligen Buchausgabe veröffentlicht wurden ['La vengeance du farmer' (= 'Deadly Dust' aus 'Winnetou III') 'Les pirates de la Mer Rouge', 'Une visite aupays du diable', 'La caravane de la mort', 'Une maison mystérieuse à Stamboul' & der Sammelband 'Le roi des requins/Le Brelan américain/L'Anain du brigand' (= 'Der Ehri/Three Carde Monte/Die Gum'). Damit erschien in Frankreich früher als in Deutschland eine erste kleine Werkausgabe Mays in Buchform, die Jugendbücher wurden erst ab 1890 , die bekannten 'Grünen Bände' gar erst ab 1993 verlegt.
Theoretisch ist es also nicht ausgeschlossen, daß Jules Verne etwas von Karl May gelesen haben könnte, zumal bis zum Tode Verne 1905 noch zwei weitere Werke Mays ins Französische übersetzt wurden ['L'empire du Dragon' (1891/92, = 'Der Kiang-lu' aus 'Am Stillen Ocean'), 'Le fils du chasseur d'ours' (1892, = 'Der Sohn des Bärenjäger'), und diese frühen französischen Buchausgaben Mays auch mit Illustrationen versehen sind, die u.a. auch von Künstlern wie Ferat und Riou geschaffen wurden, die ja auch einige der bekanntesten Werke Jules Vernes bebildert haben. Es ist aber - zumal der Absatz der erwähnten Karl-May-Bücher in Frankreich eher bescheiden war - davon auszugehen, daß Jules Verne, der nach 1970/71 ehedem auf alles was deutsch war, nicht besonders gut zu sprechen war und nach dem deutsch-französischen Krieg niemals wieder eine so sympathische deutsche Figur wie den Prof. Lidenbrock geschaffen hat, den sächsischen Autor nicht gelesen hat.
Immerhin aber gibt es eine zufällige zeitliche Parallelität bezüglich des Abdrucks von Romanen mit dem gleichen von beiden Autoren gewählten Handlungsort. In 'Le Monde' erschien vom 14.4.1883 bis 1.5.1883 als Forsetzung der Orientreise Kara Ben Nemsis die in Stambul spielende Episode 'Une maison mystérieuse à Stamboul', parallel dazu wurde 'Kéraban-le-têtu' im 'Magasin' vom 1.1.1883 bis zum 15.10.1883 abgedruckt. Auch in diesem Falle kann Verne nicht durch may beeinflußt worden sein. Dennoch ist es vielleicht mal ganz reizvoll, die Beschreibungen beider Autoren, die sich jeweils auf die Beschreibungen fremder Gewährsmänner stützen, mal miteinander zu vergleichen. Verne wird dabei nach der Hartleben-übersetzung zitiert, von May sind auch Ausschnitte aus dem etwas später niedergeschrieben Kolportageroman 'Deutsche Herzen, deutsche Helden' (1886-1888) zu lesen, der allerdings nicht ins Französische übersetzt wurde.
Jules Verne - Keraban, der Starrkopf: Am Tage des Beginns unserer Erzählung, dem 16. August, war der, sonst von dem Hin- und Herwogen und dem Getöse der Menge so belebte Top-Hane- Platz in Constantinopel auffallend still, düster und fast menschenleer.
Betrachtete man ihn von der Höhe der Terrassentreppe, welche nach dem Bosporus hinabführte, so bot derselbe immer noch ein reizendes Bild, dem es nur an allem Leben fehlte. Kaum einige Stadtfremde eilten über den Platz nach den engen schmutzigen, oft mit üblem Geruch erfüllten und von herrenlosen gelbhaarigen Hunden belagerten Straßen, durch die man von hier aus nach der Vorstadt Pera gelangt. Letztere bildet bekanntlich das eigentliche Quartier der Europäer, deren steinerne Häuser sich weiß von dem dunkelgrünen Hintergrunde mit Cypressen besetzter Hügel abheben.
Malerisch aber bleibt jener Platz immer, selbst ohne das schillernde Farbenspiel von Costümen, welches ihn sonst gewöhnlich schmückt, malerisch und augengefällig durch seine Moschee Mahmud's mit den schlanken Minarets, durch seinen hübschen Springbrunnen in arabischem Style, von dem das frühere chinesische Dach entfernt worden ist, durch seine vielen Läden, in denen hier Sorbet und tausenderlei Zuckerbackwaren verkauft werden, dort ungeheure Mengen von Kürbissen, Melonen aus Smyrna, Weintrauben aus Scutari aufgehäuft sind, während dazwischen noch Specereihandlungen liegen und Händler mit Rosenkränzen umherziehen, endlich auch durch seine Ufertreppe, an der Hunderte von buntgemalten Kajiks anlegen, deren Doppelruder unter den gekreuzten Händen der Kajiktschi (d. s. Schiffer) die blauen Wellen des Goldenen Horns und des Bosporus mehr liebkosen als durchschneiden.
Wo waren jetzt aber die gewöhnlichen Flaneurs des Top-Hane-Platzes; jene Perser mit der coquetten Astrachan-Mütze; jene Griechen, die sich in ihrer Fustanella mit tausend Falten und Fältchen nicht ohne Eleganz hin- und herwiegen; jene Circassier mit fast ausnahmslos militärischer Haltung; jene Georgier, die bezüglich des Costüms auch jenseits ihrer Grenze noch Russen geblieben sind; jene Arnauten, deren vom Sonnenbrande geröstete Haut durch den rundlichen Ausschnitt ihrer gestickten Westen hervorsieht, und jene Türken endlich, jene Türken oder Osmanlis, die Söhne des alten Byzanz, des alten Istambul - ja, wo waren sie Alle?
Keinesfalls hätte man eine solche Frage an zwei Fremdlinge richten dürfen, zwei Occidentalen, welche eben jetzt neugierigen Blickes, mit hoch erhobener Nase und unsicheren Schrittes fast allein auf dem genannten Platze lustwandelten; sie hätten darauf keine Antwort geben können. Aber noch mehr. Selbst in der eigentlichen Stadt, jenseits des Hafens, hätte ein Tourist dasselbe Schweigen, dieselbe Oede angetroffen. Auf der anderen Seite des Goldenen Horns - dieses tiefen Einschnittes zwischen dem alten Serail und den mit dem rechten durch drei Schiffbrücken in Verbindung gesetzt wird, schien das ganze Amphitheater von Constantinopel in Schlummer versunken zu sein. Wachte jetzt wirklich kein Mensch im Palaste von Serai-Burnu? Gab es keine Gläubigen, keine Hadjis mehr, welche nach den Moscheen Ahmed's, von Bayezidieh, der heiligen Sophie Suleïmanieh pilgerten? Hielt auch er Siesta, der sorglose Thurmwächter des Seraskierats, ebenso vielleicht, wie sein College auf dem Thurme von Galata, welche auf den Ausbruch der gerade in dieser Stadt so überaus häufigen Schadenfeuer ein wachsames Auge haben sollen? In der That, hier war nichts zu bemerken, als höchstens das nie ganz aussetzende Leben im Hafen, welches jedoch ebenfalls etwas gedämpft erschien, trotz der Flottille österreichischer, französischer und englischer Dampfer, der Zollkutter, Kajiks und Dampfschaluppen, welche sich längs der Brücken und der Häuserzeilen hindrängen, deren Grund die Wässer des Goldenen Horns umspülen.
Zum Vergleich dazu den Anfang von Mays Kolportageroman (Titel der sog. Fischer-Ausgabe: 'Eine deutsche Sultana', erschien auch in der bearbeiteten Textfassung 'Der Derwisch' als 61. Band der 'Gesammelten Werke' des Karl-May-Verlages):
Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden: Ein schöner, nicht zu heißer Sommertag lag warm auf den schlanken Thürmen von Konstantinopel. Tausende von Anhängern aller Nationen erfreuten sich, über die beiden Brücken gehend, des zauberischen Panoramas, welches die Stadt von Außen her bietet. An den Quais lagen die Dampf- und Segelschiffe aller seefahrenden Völker, und auf den glitzernden Wogen wiegten sich die eigenthümlich geformten türkischen Gondeln und Kähne, zwischen denen zuweilen ein kühner Delphin lustig aus dem Wasser emporschnellte oder eine Gesellschaft fliegender Fische eine schwirrende Luftparthie machte.
Von Osten her, aus der Gegend des schwarzen Meeres, kam eine kleine, allerliebste Dampfyacht geschossen, leicht und graziös zur Seite biegend, wie eine Tänzerin, welche sich am Arme ihres Tänzers, das schöne Köpfchen hingebend neigend, den berauschenden Tönen eines Strauß'schen Walzers hingiebt.
Das schmucke, außerordentlich schnelle Fahrzeug bog um die Spitze des Stadttheiles Galata herum, ging unter den Brücken hindurch und legte sich vor Pera vor Anker. Pera ist derjenige Stadttheil von Constantinopel, welcher vorzugsweise von den Europäern und ihren Gesandten und Consuls bewohnt wird.
Verne geht schließlich noch auf die 'Düfte des Orients' ein:
Jules Verne - Keraban, der Starrkopf: Eben dröhnte in der Entfernung ein Kanonenschuß. Die Sonne war unter dem Horizont des Marmarameeres untergegangen, das Ramadanfest war für heute vorüber, und die getreuen Unterthanen des Padischah konnten sich schadlos halten für die Entbehrungen des langen Tages.
Plötzlich, wie durch den Zauberschlag eines Genius, verwandelte sich nun Constantinopel. Auf die Stille auf dem Top-Hane-Platz folgte lautes Jubelrufen und Hurrahgeschrei. Cigaretten, Tschibuks, Narghiles wurden in Brand gesetzt, und die Luft erfüllte sich mit wohlriechendem Dufte. Die Cafés strotzten bald von hungrigen und durstigen Gästen.
Gebratenes aller Art, »Yaurth«, geronnene Milch, »Kaimak«, eine Art heißer Erême, »Kebab«, Lammfleisch in seinen Scheibchen, Brotkuchen von »Baklava«, die frisch aus dem Ofen kamen, mit Weinblättern umwickelte Fleischklöschen, Schüsseln voll gesottenem Mais, ganze Fässer mit Oliven, Caviartonnen, Pilaws von Huhn, in Fett gebackene kleine Kuchen mit Honig oder Syrup gefüllt, Sorbets, Eis, Kaffee, Alles, was man im Morgenlande nur zu essen und zu trinken pflegt, erschien auf den Tafeln der Läden, während kleine, an Kupferfäden hängende Lampen auf und nieder schwankten, da die Cawadjis unablässig an dieselben stießen.
Dann erglänzte die alte wie die neue Stadt bald in magischem Lichte. Die Moscheen der heiligen Sophia, der Suleïmanieh, des Sultan Ahmed, alle öffentlichen, religiösen und profanen Gebäude vom Seraï- Burnu bis zu den Hügeln von Eyub bedeckten sich mit vielfarbigen Laternen. Leuchtende, von einem Minaret zum anderen reichende Streifen zeigten Sprüche aus dem Koran am dunklen Himmel. Der Bosporus, dessen Wellen zahllose, mit hin und her schaukelnden Papierlaternen geschmückte Kajiks durchfurchten, glitzerte wirklich, als wenn die Sterne des Firmaments in sein Bett herabgefallen wären. Die Paläste am Ufer, die Landhäuser an den Küsten Asiens und Europas, Scutari, das alte Chrisopolis und seine amphitheatralisch über einander liegenden Häuser boten unendliche Feuerlinien, welche durch den Widerschein im Wasser verdoppelt schienen.
Von weither dröhnte die baskische Trommel, erklangen die »Luta« oder Guitarre, der »Taburka«, der »Rebel« und die Flöte, vermischt noch mit frommen Gesängen, die den scheidenden Tag begleiteten. Und von der Höhe der Mirarets fangen die Muezzins mit einförmiger, nur drei Töne wiedergebender Stimme über die festlich glänzende Stadt das letzte kurze, aus einem türkischen und zwei arabischen Wörtern bestehende Abendgebet : »Allah, hoekk kebir!« (Gott, Gott ist groß!)
Während in Mays Roman 'Deutsche Herzen, Deutsche Helden' ebenfalls Top-Hane erwähnt wird (z.b: Normann warf einen Blick zum Kajütenfenster hinaus und antwortete:»Wir sind bei Top Hane.« spielt dieser Stadteil im Orientzyklus keine Rolle, hier konzentriert sich May vorallem auf einige der eigentlichen Stadt vorgelagerten Quatiere, sodaß eine allzu getreue Beschreibung gar nicht von Nöten ist:
Karl May: Von Bagdad nach Stambul: Man sagt, Kopenhagen, Dresden, Neapel und Konstantinopel seien die vier schönsten Städte Europas; ich habe keine Veranlassung, dieser Behauptung entgegenzutreten. Aber in Beziehung auf Konstantinopel muß ich doch erwähnen, daß man diese Stadt nur dann schön zu finden vermag, wenn man sie nur von außen, vom goldenen Horn aus, betrachtet; sobald man dagegen ihr Inneres betritt, wird die Enttäuschung nicht ausbleiben. Ich erinnere mich dabei jenes englischen Lords, von welchem man erzählt, daß er zwar mit seiner Dampfjacht Konstantinopel besucht, aber dabei nicht sein Fahrzeug verlassen habe. Er fuhr von Rodosto am Nordufer des Marmarameeres hin bis Stambul, lenkte in das goldene Horn ein, in welchem er bis hinauf nach Eyub und Sudludje dampfte, kehrte zurück und ging im Bosporus bis an dessen Mündung in das schwarze Meer und fuhr dann wieder zurück, in dem Bewußtsein, sich den Totaleindruck Konstantinopels nicht durch Eingehen auf die garstigen Einzelheiten verdorben zu haben.
Betritt man hingegen die Stadt, so kommt man in enge, krumme, winkelige Gäßchen und Gassen, welche unmöglich Straßen zu nennen sind. Pflaster gibt es nur selten. Die Häuser sind meist aus Holz gebaut und kehren der Gasse eine öde, fensterlose Fronte zu. Bei jedem Schritte stößt man auf einen der häßlichen, struppigen Hunde, welche hier die Wohlfahrtspolizei zu versehen haben, und wegen der Enge der Passage muß man jeden Augenblick gewärtig sein, von Lastträgern, Pferden, Eseln und anderen tierischen oder menschlichen Passanten in den Kot gerannt zu werden.
So war es auch auf unserem Wege nach St. Dimitri. Die Gassen waren von den Ueberresten, welche die Fisch-, Fleisch-, Obst- und Gemüsehändler weggeworfen hatten, verunreinigt; Melonenschalen faulten in ungeheuren Mengen am Boden; neben den Fleischereien stank das Blut in breiten Löchern; Kadaver von Hunden, Katzen und Ratten, abgerissene Stücke von gefallenen Pferden hauchten einen fürchterlichen Geruch aus; Geier und Hunde waren die einzigen Wesen, welche für die Milderung dieses unerträglichen Zustandes sorgten. Wir konnten kaum den Hammals ausweichen, welche große Steine, Bretter und Balken durch die verwahrlosten Gassen schleppten, und begegnete uns einmal ein bepackter Esel, ein dicker, berittener Muselmann oder ein mit Ochsen bespannter Frauenwagen, so war es geradezu eine Kunst, vorüber zu kommen, ohne zerquetscht zu werden.