„Alles Licht, das wir nicht sehen“: Die Blinde und der „gute Nazi“ – Review

  • „Alles Licht, das wir nicht sehen“: Die Blinde und der „gute Nazi“ – Review

    Allzu oberflächliches Netflix-Kriegsdrama nach dem preisgekrönten Roman von Anthony Doerr

    Rezension von Gian-Philip Andreas – 05.11.2023, 13:24 Uhr

    Der Wehrmachtssoldat, dem die Frauen vertrauen: Louis Hofmann als Funkspezialist Werner Pfennig. – Bild: Netflix

    Der vielleicht beste US-amerikanische Kriegsroman der letzten Jahre; aufwendig verfilmt von einem Streamingdienst, der unlängst für eine andere Kriegsromanverfilmung („Im Westen nichts Neues“) den Oscar abgeräumt hat; besetzt mit Stars wie Hugh Laurie und Mark Ruffalo; adaptiert von „Peaky Blinders“-Mann Steven Knight und inszeniert von „Stranger Things“-Regisseur Shawn Levy. Das klingt doch fantastisch! Kein Wunder, dass Netflix den Vierteiler „Alles Licht, das wir nicht sehen“ stolz als Prestigeproduktion bewirbt. Die Serie aber dürfte all jene ernüchtern, die sich davon mehr als ein oberflächliches Kriegsabenteuer erwarten – und erst recht jene, die Anthony Doerrs Buch schätzen: Von dessen erzählerischen Graubereichen ist in dieser auf leichte Konsumierbarkeit abzielenden Hochglanzproduktion wenig übriggeblieben.

    Doerrs Roman, 2014 erschienen und mit dem Pulitzer-Preis dekoriert, erzählt nicht nur eine ziemlich unwahrscheinliche (und kurzzeitige) Liebesgeschichte zwischen einem 18-jährigen Wehrmachtssoldaten und einer 16-jährigen blinden Französin im Bombenhagel von Saint-Malo, kurz vor der Befreiung des von Nazis besetzten Frankreich durch die US-Amerikaner, er erzählt diese Geschichte auch sehr kunstvoll, abwechselnd aus zwei Perspektiven, nonlinear zurück- und vorausblendend. Zudem nutzt Doerr seinen historisch verorteten Plot, der aus sich selbst heraus schon ebenso spannend wie bewegend war, um Fragen des Sehens und Sehenkönnens zu umkreisen, auf buchstäblicher wie metaphorischer Ebene, es geht um (Radio-)Technik, um Kommunikation als Rettung, all dies in einer lyrischen Sprache, die das Fühlen, Hören, Sprechen kongenial erlebbar macht.

    Solcherlei Dinge ins Filmische, ins Serielle gar, zu übersetzen, ist keine leichte Aufgabe, aber keine, von der man gedacht hätte, dass ein versierter Drehbuchautor wie Steven Knight sie dermaßen außer Acht lassen würde, wie er es jetzt getan hat. „Alles Licht, das wir nicht sehen“ konzentriert sich auf die Äußerlichkeiten des Plots und setzt fast ausschließlich auf die Oberflächenreize seiner Szenerie: Shawn Levys Inszenierung ist nach außen hin makellos, alles sieht schick aus, die Nazi-Flaggen wurden frisch gebügelt, die Trümmer in den kriegszerstörten (Studio-)Straßen sorgfältig verdreckt, die Flammen im Kriegsdunkeln lodern pittoresk und spiegeln sich in den traurigen Augen leidender Menschen, und der neunfach oscarnominierte Hollywood-Komponist James Newton Howard lässt dazu einen seiner patentiert elegischen Scores aufbranden.

    Wärmende Stimme am Mikrofon: Die blinde Marie-Laure (Aria Mia Loberti) bringt Licht ins Dunkel des Weltkriegs. Netflix

    Netflix hat also eigentlich alles, was es sich nur wünschen kann für ein Quality-Produkt zur Wintersaison: vier knapp einstündige Folgen, von denen die ersten drei mit einem bis zum Anschlag auf Lebensgefahr hochgedröhnten Cliffhanger enden und sofortiges Weiterschauen befehlen, dazu Weltkrieg, Romantik, Tragik. Womöglich geht das auf, denn unterhaltsam ist der Vierteiler durchaus. Nur fehlt ihm – und das unterscheidet ihn dann doch von vergleichbaren Netflix-Premium-Produktionen im historischen Setting wie etwa „Das Damengambit“ – jede tiefere Ebene. Das mag daran liegen, dass Knight und Levy so viele Elemente, Figuren, Hintergründe des Romans weggelassen haben (oder weglassen mussten), sich am Ende sogar sehr deutlich davon entfernen: Zurück bleiben Schablonen statt ausgearbeiteter Figuren, Klischees statt motivierter Handlungen und eine Serie, die weniger die Zeit des Zweiten Weltkriegs darstellt als eine aus vielen anderen Filmen und Serien abgekupferte Vorstellung von dieser Zeit. Alles wurde perfekt zurechtgemacht und wirkt doch wie Secondhand.

    Zunächst immerhin halten sich die Macher noch an Doerrs Plot, der seine zwei Protagonisten wechselseitig vorstellt. Da ist zunächst Marie-Laure LeBlanc (in ihrer ersten Rolle: Aria Mia Loberti), eine blinde Jugendliche, die 1940, nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis und der Einsetzung des kollaborativen Vichy-Regimes, mit ihrem Vater Daniel („Avenger“ Mark Ruffalo als zarter, fast naiver Mann) ins Haus des Onkels Etienne (Hugh Laurie mit Zauselbart) geflüchtet war und jetzt, während sich die Alliierten nähern, alleine dort ausharrt und via Kurzwelle Nachrichten in die Welt hinaussendet: Ihr allabendlicher Vortrag aus Jules Vernes „20,000 Meilen unter dem Meer“ enthält verschlüsselte Botschaften an die Résistance. In Rückblenden geht es dann in ihre Kindheit in Paris. Daniel arbeitete da noch als Schlossermeister im Naturkundemuseum und die durch einen Unfall erblindete Marie-Laure suchte (und fand) neue Wege, sich trotzdem in der Welt zurechtzufinden. Nachts lauschte Marie-Laure schon damals immer dem „Professor“, der auf Kurzwelle (natur-)wissenschaftliche und humanistische Erkenntnisse über den Äther sendete: ein tägliches Licht in ihrer Dunkelheit.

    Achtung, das personifizierte Böse stiefelt heran: Lars Eidinger als Reinhold von Rumpel in den Trümmern von Saint-Malo. Netflix

    Dem „Professor“ (dessen Identität bald enttarnt wird) lauschte auch der zweite Protagonist: Wehrmachtssoldat Werner Pfennig, der auf das Enttarnen gefunkter Botschaften spezialisiert ist und Marie-Laure auf die Spur kommt. Louis Hofmann (seit „Dark“ international zugfähig) verkörpert ihn recht blass, als arisch-blondes Unschuldslamm, das selbstverständlich gegen seinen Willen in die Wehrmachtsuniform geraten ist. Das Klischee vom „guten Nazi“, der die genozidale Ideologie der Nationalsozialisten immer ablehnte, lebt hier ungut auf, und was im Roman noch differenziert behandelt wurde, bleibt hier banal. Werner, so zeigen es die Rückblenden, wurde aus dem Kinderheim heraus wegen seiner funktechnischen Expertise in eine „Napola“ wegrekrutiert, in eine dieser berüchtigten „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“ also, in der er den Ertüchtigungsterror der Nazis am eigenen Leibe erlebte. Mehr als kurze Schlaglichter darauf erlaubt die Serie nicht, und dass Werner die Kaderschmiede als Klassenbester verließ, wird nicht weiter hinterfragt. Im Anschluss ist er einfach der arglose Wehrmachtssoldat, der niemandem was Böses will – seine Verantwortung für zahlreiche Morde wird nur kurz angesprochen (Elizabeth Dulau aus „Andor“ in einem undankbaren Cameo als Résistance-Kämpferin).

  • Ärgerlicher als die Idealisierung Werners ist nur die holzschnittartige Inszenierung der im Gegensatz zum Protagonisten umso teuflischer gezeigten anderen Nazis, was einer Verkleinerung des realen Unwesens zur puppentheaterhaften Fantasy-Schlechtigkeit gleichkommt. Die Napola-Doktoren und Befehlshaber schreien schnarrend herum wie in sehr schlechten B-Filmen, was auch für die ungehemmte Bösewichterei von Lars Eidinger gilt. Der omnipräsente Theater- und Filmstar, der seit „Babylon Berlin“ ein Bein in Hollywood hat, fahndet hier als todkranker Stabsfeldwebel Reinhold von Rumpel im Auftrag Hitlers nach Juwelen. Obsessiv ist er hinter der Gemme „Meer der Flammen“ hinterher, die der Legende nach Unsterblichkeit verleiht und von der er (berechtigte) Annahme hat, dass sie sich in Daniel LeBlancs Besitz befindet. Eidinger darf als Rumpel Austern auslutschen, Verdächtige waterboarden und seine Sätze so penetrant auf Oberschurke bürsten, wie es sonst nur Nazischergen in Indiana-Jones-Abenteuern tun. Wenn er gegen Ende, mit wirr wippender Haarsträhne, Marie-Laure auf die Pelle rückt und eine merkwürdige Form von Home-Invasion-Horror in dieses Kriegsdrama bringt, scheint es so, als sei da jemand aus einem ganz anderen Film hinübergewarpt worden.

    Der gute Nazi, der böse Nazi, dazwischen die holde Maid: So simpel und kolportagehaft geht es hier zu. Es ist ein Frevel angesichts der um Zwischentöne herumkomponierten Vorlage. Man kann sich schwerlich vorstellen, dass Anthony Doerr, der an der Produktion der Serie nicht beteiligt war, mit dem glattgebügelten Finale, das sich nach aufgedonnerter Bomben-Action hemmungslos in den Kitsch flüchtet, zufrieden sein könnte: Den kompletten Epilog des Romans, unverzichtbar für dessen Wirkung, lassen Knight und Levy komplett weg, um bloß nichts Störendes in ihre Hochglanzfabel einfließen lassen zu müssen. Figuren, die im Roman überleben, müssen hier der populistischen Tränendrüsendrückerei wegen sterben – und umgekehrt.

    Aufrechter Widerstandskämpfer an der bretonischen Küste: Hugh Laurie als Onkel Etienne. Netflix

    Einem Publikum, das die Romanvorlage nicht kennt, wird das natürlich wurscht sein, und auch für Kenner des Buches gilt, dass sich Romanverfilmungen selbstredend auch sonst nie exakt ans Original halten. Weglassungen, Hinzufügungen, Umstrukturierungen gehören dazu, auch andere Schwerpunktsetzungen sind absolut zulässig – sofern, und das wäre die notwendige Einschränkung, der generelle „Sound“ der Vorlage irgendwie erkennbar bleibt. Das aber ist hier zu selten der Fall.

    Werners Charakter wird durch das Eliminieren fast aller für seinen Erzählstrang wichtigen Figuren notwendiger Reibungspunkte beraubt, selbst die zentrale Beziehung zu seiner Schwester Jutta (Luna Wedler) bleibt Randnotiz. Auf Marie-Laures Seite werden die Résistance-Aktivitäten von Etienne und Madame Manec (Marion Bailey, Queen Mum aus „The Crown“) groß eingeführt, dann kaum weitererzählt, stattdessen darf Hugh Laurie auf dem Moped herumdüsen und Etienne wie einen gealterten „Dr. House“ mit Vollbart spielen. Einmal kurz wird sein Trauma aus dem Ersten Weltkrieg angeführt, das war’s. Fast alle Figuren müssen hier mit solchen Kurzcharakterisierungen auskommen: So simpel gezeichnet, so one note, waren in als solchen ausgewiesenen Qualitätsserien schon lange keine Figuren mehr; selbst namhafte Leute wie Felix Kammerer (aus „Im Westen nichts Neues“) oder Ed Skrein kommen in Kurzauftritten nicht dagegen an.

    Wenn es einen Grund gibt, sich diese letztlich gescheiterte Romanverfilmung trotzdem anzusehen, dann ist es sicher Aria Mia Loberti. Die auch im echten Leben blinde Darstellerin spielt nicht nur am souveränsten, sie schafft es mühelos, ihren vielen (Erklär-)Monologen und der im Eiltempo zurechtgezurrten Liebesbeziehung zu Werner eine Glaubwürdigkeit zu verleihen, die der Serie ansonsten abgeht. – Als Alternativprogramm sei hier abschließend auf „Ein Funken Hoffnung“ bei Disney+ hingewiesen, eine achtteilige Serie, die sehr gut aufzeigt, wie man Kriegshistorie rund ums bisschen Licht im Dunkel ebenso unterhaltsam wie in die Tiefe lotend inszenieren kann.

    Dieser Text basiert auf der Sichtung aller vier Episoden von „Alles Licht, das wir nicht sehen“.

    Meine Wertung: 2/5

    Die vierteilige Miniserie „Alles Licht, das wir nicht sehen“ ist seit dem 2. November im Angebot des Streamingdienstes Netflix verfügbar.

    Quelle: https://www.fernsehserien.de/news/tvkritik/…d-der-gute-nazi

  • Gute Rezi. Ich hab die Miniserie vor Kurzem geschaut und fand sie recht unterhaltsam: nicht ganz schlecht, mit ein paar Abstrichen. Ganz übel war die Darstellung der Nazis. So als total übergeschnappte, geifernde, keifende Brüll-Affen. Mal ganz ehrlich, wenn die sich alle so gegeben hätten, dann hätte die doch kein Mensch gewählt. Klar waren die irre, aber doch mit System und nicht so, als wären sie gerade mal alle eben aus der Klappsmühle ausgebrochen.

    Naja, und diese Radio-Lesungen von "20.000 Meilen" ... Ok, kann man machen. Aber war das schmale Braille-Bändchen, aus dem sie vorgetragen hat, nicht ein bisschen zu dünn für diesen gewichtigen "Klopper"? Wenn ich die neue Ausgabe des Buchs aus dem Coppenrath-Verlag daneben lege, dann sehe ich auf den ersten Blick, dass da im Film etwas nicht stimmt. Aber was soll's, der Normalo (Sprich "Nicht-Verne-Leser") wird's schon nicht merken. Wie so vieles andere ...