Als die Theatervampire begannen, Michel Foucault zu lesen

  • Die Burgtheater-Produktion "Nosferatu" verwandelt Bram Stokers "Dracula" in ein unnötiges Blutbad


    Ronald Pohl

    20. Jänner 2024, 11:28


    Finster war's, das Licht der Aufklärung schien auch nicht besonders helle: Bibiana Beglau (li.) ist als "Gräfin" der armen, blutenden Menschheit von Herzen zugetan.

    Susanne Hassler-Smith


    Transsylvanien, die urtümliche, hinter den schroffen Bergen Südosteuropas gelegene Heimat des Grafen Dracula, liegt kaum in Sichtweite des Burgtheaters. Wie viel leichter fällt es da, Bram Stokers vor Bedeutsamkeit strotzendes Dracula-Brimborium in die Theaterkiste zu packen und nach Wien zu verfrachten.


    In der Burg hat man tatsächlich kein Mittel verschmäht, um die Vampirgeschichte – sie ist seit jeher ein gefundenes Fressen für die Kulturindustrie - ordentlich aufzublähen. Die herrliche Bibiana Beglau flimmert als "Gräfin" über die Schirme. "Das Phantom Nosferatu" sei immer schon da, spricht die Untote. In Wahrheit liegt sie, offenbar springlebendig, in ihrer komfortablen Gruft zu Grabe.


    Besagtes Monstrum kann, wie die Produktion Nosferatu so eindrucksvoll wie niederschmetternd demonstriert, noch mehr. Es nistet in unseren Herzen, Hirnen und Eingeweiden. Und wie auf letzteres Stichwort hin erscheint auf der Leinwand ein symmetrisch gespiegelter Blondschopf. Aus der Mitte des zerstörten Gesichts tropft, in unversieglichem Strahl, hektoliterweise Blut.


    Der Generalton dieses von Adena Jacobs (Regie) und Gerhild Steinbuch (Text) gemeinsam verbrochenen Abends ist somit vorgegeben. Mister Harker, der ausgerechnet nach Transsylvanien aufbricht, um Dracula eine englische Immobilie anzudrehen, ist eine Frau (Sylvie Rohrer). Diese trägt ein durchscheinendes Hemdchen und steht vor einer patenten, mehrstöckigen Scheune, die, wäre es nicht so europäisch finster, ideal ins sonnige Idaho passen würde (Bühne und Ausstattung: Eugyeene Teh).


    Eine Art Sanatorium

    Hier, im Dramaturginnen-Dunkel, ist besser Munkeln. Draculas Schloss birgt eine Art Sanatorium. In ihm ist die streng frisierte weibliche Ärzteschaft (Sabine Haupt), die Kladde in der Hand, nicht sehr aufopferungsvoll um das leibliche Wohl ihrer Patienten und Patientinnen bemüht. Es gibt eine Somnambule, obendrein einen Mann, der Fliegen verzehrt.


    Derlei wertvolle Details muss der geneigte Zuschauer aus eigenen, freien Stücken beisteuern. In Schaukästen zucken malträtierte Körper, ein anderes Mal spannt ein Gehäuteter den Bizeps. Hier lauert das Böse immer und überall. Es schreibt sich in die Leiber ein, es prägt das Denken des positivistischen Zeitalters. Es ist, als ob alle Beteiligten das Proseminar eins in der Fachrichtung Michel Foucault („Bio-Macht und Sexualität“) soeben mit zufriedenstellendem Erfolg absolviert hätten.


    Gerhild Steinbuchs neo-expressionistischer Text zirkuliert durch den zweistündigen Abend, durchblutet ihn jedoch nur unzulänglich. Die Wirbel ausgestorbener Lebewesen schmücken Schauspielerinnen und Statistinnen. Letztere hängen aus dem Schnürboden herab wie Archaeopteryxe.


    Ein Strafgericht

    Eine Verschwörung scheint im Gange. Die "Gräfin" (Beglau) hält im Brüllton Strafgericht über die Erdlinge, die ihre Außenseiterinnen in Begriffe zwängen und deren Körper in Kästen sperren. Es nützt alles nichts, ein bedauernswerter Burgschauspieler wie Markus Meyer muss den Kriechwurm spielen (alias Renfield). Der Vampirküsse werden zu viele gewechselt, und irgendwann möchte man nicht mehr entscheiden müssen, ob diese Küsse Bisse waren.


    Dieser ebenso nachtfinstere wie blutunterlaufene Murks von einem Theaterabend versetzte den Großteil des Premierenpublikums in maßloses Erstaunen. Es vergaß zu applaudieren. (Ronald Pohl, 20.1.2024)


    https://www.derstandard.at/sto…-michel-foucault-zu-lesen


    :reaper::keule:

  • Nosferatu - Burgtheater Wien

    Wer ist das Monster – Du oder ich?


    Mit seinem 1897 zuerst veröffenlichten Roman "Dracula" erfand Bram Stoker den berühmtesten Vampir aller Zeiten. Jetzt haben sich Regisseurin Adena Jacobs und Dramatikerin Gerhild Steinbuch den markanten Stoff vorgenommen: mit Bibiana Beglau in der Titelrolle.


    Von Andrea Heinz


    "Nosferatu" von Gerhild Steinbuch nach Bram Stoker am Wiener Burgtheater © Susanne Hassler-Smith


    20. Januar 2024. Es beginnt gleich mit einer guten Dose Bodyhorror: Überlebensgroß auf die Burgtheaterbühne projiziert sehen wir ein unschuldiges, weißes Gesicht mit hellen Haaren. Aus seiner Mitte aber schält sich ein anderes Gesicht heraus, blutüberströmt. Sämiges Theaterblut trieft und fließt überhaupt gerne und viel über die Gesichter und aus den Mündern an diesem Abend, was nicht weiter verwundern darf, heißt das Stück, das gegeben wird, doch: Nosferatu.


    Aber wer ist hier denn jetzt das Monster?


    Regisseurin Adena Jacobs und Autorin Gerhild Steinbuch haben sich an eine Neuinterpretation des Bram Stoker-Klassikers Dracula gewagt, und dass – bis auf die Figur des Renfield – alle im Original großteils männlichen Rollen von Frauen gespielt werden, bleibt nicht ihre einzige Veränderung. In Steinbuchs (sprachlich brillanter) Fassung erhält auch die "Bestie" Nosferatu (Bibiana Beglau) selbst eine Stimme. Sie ist nicht nur Projektionsfläche, Objekt der Betrachtung anderer (die ihr wiederum zum Objekt ihrer Gewalt werden), sondern handelndes, denkendes, ja, auch leidendes Subjekt. Denn wer hier das Monster ist und wer nicht, das ist – durchaus erwartbar – nicht so eindeutig.


    Die Inszenierung lässt Zeit und Raum in eins kollabieren. Der Ort ist zugleich Draculas Schloss, in das Anwältin Harker (Sylvie Rohrer) eingeladen wird, die Nervenheilanstalt der Ärztin (Sabine Haupt) mit Krankenschwester Mina (Safira Robens), Zuhause von Lucy (Lilith Häßle) und ihrer Mutter (Elisabeth Augustin) und Zelle von Renfield (Markus Meyer), auch die Erinnerungs- und Handlungsebenen verschwimmen. Genauso, wie Tag und Nacht, Wach und Schlaf sich verwirren.


    Unheimliches Licht, digitale Unendlichkeit


    Grandios wird das gespiegelt in einer, man muss es so sagen, genialen Bühnenkonstruktion (gleiches gilt für die Kostüme: Eugyeene Teh): Auf zwei Seiten die holzvertäfelte Fassade eines Gebäudes, irgendwo zwischen Herrenhaus und Scheune angelegt, hinter dessen Fenstern manchmal heimeliges, manchmal unheimliches Licht flackert und Gestalten lugen, bisweilen auch herauskrabbeln. Die blutsaugenden Kreaturen, sie können ja bekanntlich auch an Wänden entlang klettern.


    Auf der dritten Seite befindet sich eine LED-Wand, auf der etwa Zauberberg-mäßig Wirbelsäulen-Röntgenbilder zu sehen sind, und von der vierten, offenen Seite aus blickt man auf einen großen gläsernen Sarg, in dem Menschen schlafen sowie gefangengenommen und Versuchen unterzogen werden. Vom Schnürboden winden sich nackte Figuren herunter, die digital ins Unendliche multipliziert und zum Ornament gefügt dann auch digital die Bühne bevölkern (Video: Tobias Jonas, Eugyeene Teh).


    Heilanstalt oder Schloß? Die geniale Ausstattung von Eugyeene Teh öffnet einen großen Assoziationshorizont © Susanne Hassler-Smith


    Überhaupt arbeitet die Inszenierung mit visueller und akustischer Totalüberwältigung. Lärmende Klänge und Videoeinspielungen der sich windenden und umschlingenden nackten Körper bringen den puren Horror auf die Bühne, den Nosferatu in seiner Unsterblichkeit schon erlebt hat – aktiv wie passiv, sozusagen. Der Abend lebt von der dichten Atmosphäre, seiner starken Sprache und dem präzisen Ensemble, das sich gegen die digitale Überwältigung locker behaupten kann.


    Wie Mantras tauchen immer wieder aus verschiedenen Mündern dieselben Worte auf. Erinnerungen und Geschichten scheinen von Figur zu Figur zu wandern. "Seit ich Kind bin, ist mein Traumhaus immer schon ein Schloss gewesen" etwa, oder, so etwas wie der Schlüsselsatz des Abends: "Bist du ein Tier oder nicht?" Es gibt Anspielungen im Text, die man durchaus auf die Geschichte des Nationalsozialismus in Österreich hin lesen kann, und gerade bei den Versuchen im Plexiglas-Sarkophag drängen sich sofort Assoziationen an Menschenversuche und Eugenik auf.


    Souveräner Umgang


    Aber diese relativ simplen, durchaus nicht neuen Gedanken wie jene, dass manchmal diejenigen die Bestien sind, die andere als solche verfolgen und töten, dass das Andersartige nicht immer gleich das Böse ist, sind es am Ende nicht, die die Inszenierung bemerkens- und sehenswert machen. "Wer ist das Monster – Du oder ich?", das wusste schon Niki de Saint Phalle.


    Auf dieser intellektuellen Ebene bleibt der Abend etwas dünn, was aber kein Schaden ist. Seine Stärke liegt in der sprachlichen, rhythmischen Kraft des Textes, der atmosphärischen Überwältigung und nicht zuletzt einem technisch ausgereiften, künstlerisch souveränen Umgang mit digitalen Möglichkeiten, wie man ihn auch nicht alle Tage sieht. Insofern: Ansehen!


    Kritikenrundschau


    Not amused zeigt sich Ronald Pohl im Standard (online 20.1.2024). "Dieser ebenso nachtfinstere wie blutunterlaufene Murks von einem Theaterabend versetzte den Großteil des Premierenpublikums in maßloses Erstaunen. Es vergaß zu applaudieren." Gerhild Steinbuchs neo-expressionistischer Text zirkuliere durch den zweistündigen Abend, durchblutee ihn jedoch nur unzulänglich. Aber "im Dramaturginnen-Dunkel, ist besser Munkeln".


    "Wer sich spritzige Dialoge oder sogar Action wie in fast noch aktuellen Blutsauger-Filmserien erwartet, wird wohl enttäuscht sein", so Norbert Meyer in der Presse (online 20.1.2024, €) "Wer aber die fantastische Wortkunst von Burgstars, barocke Bilder und apokalyptische Videos sowie eine fantastische Choreografie (Melanie Lane) erwartet, kommt auf seine Kosten." Die aufwendige Technik fasziniere, ebenso Steinbuchs Sprache. Der Abend aber überwältige vor allem auch durch seine Bildkraft.


    Adena Jacobs lege "Ort, Zeit, Raum und Handlung übereinander", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (21.1.2024), die Inszenierung sei "mehr eine Kunstinstallation denn Drama". Das sei "beeindruckend anzusehen", aber "komplett ohne Wirkung". Die "Linien des Romans" oder die "Psychologie der Figuren" nachvollziehen zu wollen, führe "ins Nichts". Der Abend sei eine "Bestandsaufnahme von Nosferatus finsterer Seele", lasse aber kalt.


    Quelle: https://nachtkritik.de/nachtkr…m-stoker-horrorklassikers

  • DIeses Hin- und Her in den Bewertungen ist verständlich. Auch an unserem hiesigen Staatstheater gibt es unterschiedliche Bewertungen gleicher Seh- und Hörerlebnisse. Meistens ist es bei uns eine Diskrepanz zwischen "Otto-Normalverbraucher-Zuschauer" und "Über-den-Dingen-schwebender-Feingeist-Kritiker". Während der Durchschnittszuschauer und der Kultur-Provinzredakteur Dinge befremdlich findet oder beide sich nicht unterhalten fühlen, erklärt uns der Profi-Kritiker was eigentlich gemeint war, was das Methaphysische hinter dem völlig entstellten Klassiker ist, oder wie sich die Inszenierung der Turbo-Regisseure (reisen in kürzester Zeit von Theater zu Theater auf der Jagd nach internationalen Schlagzeilen) wohlwollend von den Erwartungshaltungen der Allgmeinheit abhebt. Komischerweise sind die Sitzreihen der hochgelobten Experimente nach der Erstaufführung meistens ziemlich leer. Aber große Theater (mit staatlicher Unterstützung und Förderung) können sich solche Dinge eben leisten. Da ist es egal, was der normale Konsuent davon hält ...