Wie viel «Dracula» steckt in «Heidi»?

  • Wie viel «Dracula» steckt in «Heidi»? Vampirismus bei zwei Ikonen der Weltliteratur

    Es klingt abenteuerlich, aber die Parallelen sind verblüffend: Johanna Spyris «Heidi» von 1880 weist bei näherer Betrachtung Gemeinsamkeiten mit der berühmten Fantasy-Story von Bram Stoker auf, die 1897 in England erschien und bis heute fortlebt.


    Peter Otto Büttner


    Das Herrschaftshaus in Frankfurt wird für Heidi genauso zum Gefängnis wie das Schloss des Grafen Dracula für den jungen Londoner Rechtsanwalt Jonathan Harker: Szene aus der Fernsehserie «Heidi».

    Keystone


    Hinter dem Paravent der Idylle, das lehren uns die Großmeister der Schauer- und Horrorliteratur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, lauert oft das Böse in seiner grotesken, übernatürlichen und monströsen Gestalt. Als Sigmund Freud in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Psychoanalyse begründete, avancierte der Name Bram Stoker zum Inbegriff eines eigenen Genres: der Vampirerzählung.


    Mit seinem 1897 erschienenen Roman «Dracula» erklomm der irische Literat, Journalist und Theatermanager den Olymp der Unsterblichkeit. Seine erdichtete Figur des Grafen Dracula zählt heute zu den stärksten Populärikonen der Moderne, weil sich in ihrer Unerschrockenheit und Gier etwas von dem bündelt, was Ablehnung oder Bewunderung hervorruft. Die aus fiktionalen Tagebucheintragungen, Briefen, Zeitungsartikeln und Mitschriften konzipierte Erzählung weist eine ähnliche spektakuläre Rezeptions- und Wirkungsgeschichte auf wie jene von «Heidi» der Zürcher Autorin Johanna Spyri, die, im Unterschied zu Stoker, ihr Publikum nicht schockieren, sondern erbauen wollte.


    Und doch, bei Lichte betrachtet zeigen die beiden Werke in Motivik und Inhalt zum Teil verblüffende Parallelen, die belegen, wie nah sich die beiden Autoren in Wirklichkeit waren, ohne vom Werk des anderen vermutlich Kenntnis gehabt zu haben (Stoker) oder haben zu können (Spyri).


    Wer sich auf eine derartige Lesart einlässt, wird überrascht sein, wie viel «Dracula» bereits in «Heidi» steckt oder umgekehrt. Sowohl in «Heidi» als auch in «Dracula» wird die Natur als strukturierendes Motiv prominent thematisiert, wenn auch symbolisch entgegengesetzt aufgeladen und charakterisiert. Mit ihr eng verbunden ist das Aussergewöhnliche und Randständige, wie es in Spyris Novelle die Figur des Alpöhis verkörpert, der einsam und verbittert und von Gott abgewandt in der Bündner Bergeinsamkeit lebt. Dort wächst das lebenslustige Heidi auf, das von seiner Tante später nach Frankfurt gebracht wird, wo es als Gespielin der an den Rollstuhl gefesselten Klara Sesemann Gesellschaft leisten soll, die dem Tod näher steht als dem Leben.


    Wie das Schloss des Grafen Dracula entpuppt sich das herrschaftliche Haus der Sesemanns als Mausefalle. Jegliche Fluchtversuche Heidis enden jäh und rufen den unerbittlichen Zorn Fräulein Rottenmeiers hervor. Das alles erinnert an das Schicksal des jungen Rechtsanwalts aus London, Jonathan Harker, aus Stokers Roman, der geschäftlich nach Transsylvanien zum Grafen Dracula reist, um dort dem Grafen bei einem Kauf eines Grundstücks in der Nähe von London behilflich zu sein. Doch schon bald muss Harker mit Unbehagen erkennen, dass er ein Gefangener des Grafen ist und das Schloss aus freien Stücken nicht verlassen kann. Traumatisiert hält Harker in seinem Reisetagebuch fest: «doors, doors, doors everywhere, and all locked and bolted. In no place save from the windows in the castle walls is there an available exit. The castle is a veritable prison, and I am a prisoner!»


    Auch wenn es in «Heidi» kein Blaubartzimmer wie im Schloss des Grafen Dracula gibt, scheinen die Parallelen dieses Motivs der Gefangenschaft evident. Auch Heidi erlebt das fremde Haus als Gefängnis; das ihr zugewiesene Eckzimmer gewährt keinerlei Einblicke in die Aussenwelt, von dem aus nur «Mauern und Fenster und wieder Mauern und dann wieder Fenster» zu erblicken sind. Die emotionale Kälte, die sich in dieser Umgebung ausbreitet, setzt dem sensiblen Kind sichtlich zu. «Nach Tisch sass Heidi jeden Tag ein paar Stunden lang ganz allein in seinem Zimmer», während Klara sich zur Ruhe legte und schlief.


    Was in den nächsten Kapiteln geschildert wird, ist der seelische und körperliche Zerfall des fröhlichen Bergkindes. Während Klara seit der Ankunft von Heidi mehr und mehr an Leben zurückgewinnt, schwindet jene Lebenskraft von Heidi von Tag zu Tag. Das Frankfurter Haus wird zum Schauplatz dieser ungleichen Mädchenfreundschaft, die geprägt ist von Intimität, Abhängigkeit und Gefahr.


    Klara, die offensichtlich keinen Zugang zu ihrer eigenen Lebensenergie findet, entzieht diese Heidi, um am Ende zu neuem Leben zu erwachen und – im übertragenen Sinne – von den Toten wieder aufzuerstehen. Vampirismus bei «Heidi»? Aber ja! Klaras Energievampirismus ist subtil, emotional und für die Leser kaum zu erkennen. Heidi wird wie Harker am Ende ihres Abenteuers in die alte Welt zurückkehren, ausgestattet mit dem Blick einer Heimkehrenden, die an Seele und Leib erfahren hat, was es heisst, in einem Haus wie jenem der Sesemanns zu überleben. Damit teilt Heidi das Schicksal Jonathan Harkers, der den Fängen Draculas nur mit Müh und Not entrinnen konnte.


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    Peter Otto Büttner, 44, ist Präsident der Heidiseum Stiftung und Direktor des Heidi-Archivs, das im Mai 2023 von der Unesco als Weltdokumentenerbe anerkannt wurde. Der promovierte Germanist und Kulturwissenschafter ist assoziierter Wissenschafter der Universität Zürich und erforscht seit vielen Jahren das Leben und Werk Johanna Spyris. Ziel der Heidiseum Stiftung ist es, ein multimediales Heidi-Heritage-Center in Zürich zu errichten.


    Quelle: https://www.nzz.ch/report-und-…teckt-im-heidi-ld.1822209