Schundautor, Antisemit, Stichwortlieferant für die Nazis: Karl May wurde für vieles gescholten. Zu Recht?

  • Schundautor, Antisemit, Stichwortlieferant für die Nazis: Karl May wurde für vieles gescholten. Zu Recht?


    Karl May verklärte seine Helden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, aber eine Linie zu Hitler lässt sich von ihm aus nicht ziehen. Der Literaturwissenschafter Thomas Kramer zeichnet ein differenziertes Bild des Schriftstellers.


    von Jörg Scheller

    13.11.2023


    Der Schriftsteller geht auf in der Figur, die er geschaffen hat: Karl May (1842–1912), verkleidet als Old Shatterhand.

    Imago


    Geschichte wird nicht nur von Gewinnern geschrieben. Sondern auch von Menschen, die in der Zukunft erst noch gewinnen wollen. Dafür wird die Vergangenheit immer wieder aufs Neue zum Schauplatz von Kulturkämpfen. In diesen Kämpfen fechten Kontrahenten aus, wer künftig den Ton angeben wird. Die populären Abenteuer- und Reiseerzählungen von Karl May (1842–1912) aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bilden da keine Ausnahme.


    Im Lichte veränderter globaler Machtverhältnisse werden sie heute einer postkolonialen und antirassistischen Kritik unterzogen. Während manche Vertreter postkolonialer Theorien in May einen Stichwortgeber europäischer Herrenmenschen, Kolonisatoren und Rassisten sehen, verteidigen ihn May-Fans als friedfertigen Humanisten oder harmlosen Fabulierer. Mit seinem Buch «Karl May im Kreuzfeuer» liefert der Berliner Literaturwissenschafter Thomas Kramer nun einen klugen, so differenzierten wie pointierten Essay zur gegenwärtigen Debatte.


    Kramer verfügt über profunde Kenntnisse des Mayschen Gesamtwerks sowie jüngerer verwandter Genres wie des Western oder der Superheldengeschichten. Anders als der im Buch mehrfach kritisierte Historiker Jürgen Zimmerer, der auf Basis flüchtiger Quellenlektüre zu einseitigen Urteilen über May kommt, tut Kramer das, was für Wissenschafter eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Er betreibt Quellenkritik, wenn er zeigt, wie manche Bücher Mays von Verlagen überarbeitet und ideologisch verzerrt wurden, und er betreibt Konstellationsforschung, wenn er May im Kontext seiner Zeitgenossen analysiert. War der Kleinkriminelle, Hochstapler und spätere Starautor also Rassist, gar Antisemit?


    Antisemitische Klischees

    Kramer klärt in erfrischend nonchalanter Sprache auf und bedient sich dafür bevorzugt eines vergleichenden Ansatzes. Während etwa Karl Marx in seinem Artikel «Die russische Anleihe» (1856) unverhohlen antisemitische Propaganda verbreitet, sind antisemitische Klischees bei Karl May in subtilerer Form vorhanden. Doch sie fügen sich nicht zu einem geschlossenen Weltbild.


    Kramer kritisiert May konsequenterweise dort, wo er gruppenbezogene Klischees oder kulturchauvinistisch-orientalistischen Kitsch verbreitet, und rehabilitiert ihn dort, wo er für humanistisch-pazifistische Ideale eintritt. Er legt dar, dass May zwar nicht gegen Vorurteile gefeit war, aber nicht nur gegen den Kolonialismus der Europäer und gegen die Südstaatensklaverei, sondern auch gegen die Sklaverei im Islam Position bezog.


    Hier bietet sich ein Vergleich mit dem Philosophen Immanuel Kant an. Der verbreitete zwar in seinem Frühwerk unkritisch die rassistischen Stereotype seiner Zeit. Später aber, etwa in der «Metaphysik der Sitten» (1797), schlug er andere Töne an und sprach sich klar gegen die gewaltsame Kolonisierung Amerikas aus.


    Keine weisse Herrenrasse

    Somit lässt sich nicht, wie Zimmerer insinuiert, eine Linie von May zu Adolf Hitler ziehen. Dass Hitler May schätzte und, dieser Hinweis fehlt bei Kramer, in der brutalen Eroberung Amerikas ein Vorbild für die Ostexpansion des Deutschen Reiches sah, besagt nur wenig – der autoritäre Charakter biegt sich seine Einflüsse zurecht, wie es ihm passt.


    May schwebten keine europäischen Staaten als globale Ordnungsmächte oder gar eine weisse Herrenrasse als globaler Blockwart vor. Vielmehr kritisierte er in seinem Werk solche Ziele und träumte von einer «indianisch-germanischen Mischrasse». Laut Kramer ist Mays Werk denn auch eher christlich als rassistisch geprägt. May neigte zum Missionarischen und verklärte seine Superhelden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi zu Heilsbringern aus deutschen Landen. Doch stellt dies keine Apologie gewaltsamer Bekehrungen im Zeichen des Kreuzes dar.


    Da May nicht nur populäre Erzählungen, sondern eine veritable Mythologie für die Massen schuf, ist es folgerichtig, dass Kramer Mays Figuren mit jüngeren Helden der Pop-Kultur vergleicht, unter ihnen Batman. Batman wie auch Mays Superhelden neigen aus Sicht Kramers zur Deontologie. Auch das haben sie übrigens mit Immanuel Kant gemeinsam: Anders als in der Ethik des Utilitarismus heiligt in der Deontologie der Zweck niemals die Mittel. Für Vertreter einer deontologischen Ethik wie Kant sind bestimmte Handlungen in sich entweder gut oder schlecht, ganz egal, was die gewünschten Konsequenzen sind.


    Lernen, das europäische Erbe zu lieben

    Wer also aus postkolonialer Perspektive nur auf einen Aspekt der Werke Mays oder Kants fokussiert, keine Quellenkritik betreibt und Entwicklungen ausblendet, dem wird es leichtfallen, beide als Rassisten und Verteidiger des Kolonialismus abzustempeln. Wer aber den Blick weitet, wird sein Urteil, wenn nicht revidieren, so doch differenzieren müssen – genau das tut Kramer, der auch bei spürbarer Sympathie für May kritische Distanz wahrt.


    Es bleibt zu hoffen, dass die Vertreter der postkolonialen Theorie dereinst eine ähnlich wohlwollend-differenzierte Rezeption erfahren werden. Populistisch wäre es in jedem Fall, sie auf May- oder Europa-Bashing zu reduzieren. Die Autorin Mithu M. Sanyal etwa kommt wie Kramer zu dem Schluss, dass sich von May einiges lernen lasse. Rassismus finde man bei ihm zwar, aber ebenso ethisch Begrüssenswertes.


    Und auch die europäische Moderne erfährt in der postkolonialen Theorie nicht nur Ablehnung. Bei der indischen Politikwissenschafterin Nikita Dhawan heisst es: «Ohne koloniale Gewalt zu rechtfertigen, muss die postkoloniale Welt lernen, das Erbe der europäischen Moderne zu lieben.» Wer also nicht möchte, dass die postkoloniale Theorie zum Pappkameraden gemacht wird, sollte keinen Pappkameraden aus Karl May machen. Kramers Buch liefert dafür wichtige Anregungen und gute Argumente.


    Thomas Kramer: Karl May im Kreuzfeuer. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023. 168 S., Fr. 23.90.


    Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/…aber-kein-nazi-ld.1763305

  • Wow, ein interessanter Beitrag. Ich kenne den Autoren von mehreren Untersuchungen und Büchern. Was ihn jeweils auszeichnet: er betreibt umfangreiches Quellenstudium und er konsumiert auch das worüber er schreibt. Das klang auch oben an. Ich hatte das Vergnügen, mich mit ihm schon mehrmals im Mailverkehr oder in Telefonaten zu unterschiedlichen Inhalten auszutauschen.

    Gut wenn er nicht auf den gerade aktuellen Zug aufspringt und Argumente liefert, die nicht alles demontieren was gerade von den Bilderstürmern so gern getan wird. Ich bin kein ausgesprochener May-Fan, aber ich denke, er wird die Freunde der Bücher des Autoren mit guten Material für Diskussionen beliefern.


    PS: wenn ich eine Fremdsprache erlerne, eigne ich mir dann im Sinne der postkolonialen Eiferer fremdes Kulturgut an?
    Das bitte ich nicht als Beginn einer Diskussion über meine Aussage aufzufassen, sprechen wir hier lieber über Kramer…

  • Klingt nach einer erfrischend differenzierten Analyse von Autor und Werk. Meiner Meinung nach hat es das auch dringend nötig, wenn man die vollkommen aus dem Ruder gelaufene Diskussion und anschließende pauschale Aburteilung des Autors ein wenig mitverfolgt hat. Am enttäuschendsten für mich war es zu sehen, dass es für viele Kritiker, die sich da unbedingt einmischen mussten, offenbar nur schwarz oder weiß, richtig oder falsch gab. Grautöne oder Dissonanzen auszuhalten ist heute offenbar schwer ... :rolleyes:

    Vieles lässt sich auch auf Jules Verne übertragen ...

  • Grautöne oder Dissonanzen auszuhalten ist heute offenbar schwer ... :rolleyes:

    Ja, leider. Vieles sieht für mich nach Frustabbau aus. Dazu teilt man heftige Schläge mit der N-Keule aus. Besonders toll (bzw. besonders billig und einfach) ist es natürlich, wenn sich der Betroffene nicht wehren kann … weil tot. Eine Verleumdungsklage z. B. muss man da ja nicht befürchten. Und kann zusätzlich noch das Gefühl der (vermeintlichen) moralischen Überlegenheit genießen.

  • Und das ist das schlimme an der Sache: die damaligen Romane schilderten den Zustand zu dieser Zeit. Ich akzeptiere ein vorangestelltes Vorwort in einem Roman, indem man herausarbeitet, dass das die damaligen Einstellungen der Menschen und die verwendeten Worte eben das gebräuchliche Vokabular war. Aber inhaltliche Änderungen würden suggerieren, dass doch damals alles in Ordnung war!


    Und wenn die Reise um die Welt in 80 Tagen neu verfilmt wurde (Frankreich/Deutschland als Mehrteiler) und darin “dunkle” Sheriffs und ebensolche Hauptakteure nebst weiblich emanzipierter Hauptdarstellerin auftauchen, dann ist das schlichtweg Geschichtsfaelschung. So war es eben nicht und dafür haben Generationen bis zum heutigen Tage kämpfen müssen!


    Gerade als sehr geschichtsinteressierter Mensch könnte ich mich darüber aufregen. Vergangenheit kann man nicht nachträglich schönreden.

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    Thomas Kramer: Karl May im Kreuzfeuer

    Geschrieben von Stefan Diebitz - Donnerstag, 30. November 2023 um 08:02 Uhr


    Der Autor als Kind, reitend und als "Indianer" verkleidet. Foto: privat


    War Karl May ein Rassist? Vertrat er imperialistische oder kolonialistische Positionen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein schmaler Band des Berliner Literarhistorikers Thomas Kramer.


    Was soll man davon halten, dass ein Verlag bei einem ersten zaghaften Protest zurückschreckt und drei Publikationen zurückzieht? Sie begleiteten den Film „Der junge Häuptling Winnetou“, und es scheint, dass Indigene nicht mit der Darstellung ihrer Vorfahren einverstanden gewesen waren.


    Wahrscheinlich hat es bereits ausgereicht, von ihnen als von „Indianern“ zu schreiben. In jedem Fall verzichtete der zerknirschte Verlag umstandslos auf jeden Widerstand und gab zu, dass er „mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt“ habe. Eigentlich eine ziemlich merkwürdige Begründung, denn wer sich verletzt fühlt, braucht ja nicht nach so einem Buch zu greifen, vielleicht gar in einer Sprache, die er nicht versteht.


    Thomas Kramer Karl May COVER


    Bis heute ist Karl May einer der erfolgreichsten deutschen Romanciers überhaupt – immer noch wird er gelesen, und nicht nur von kleinen, sondern gar nicht selten auch von großen Jungs. In nicht wenigen deutschen Provinzstädten werden im Sommer Karl-May-Festspiele abgehalten, und das Fernsehen widmet in regelmäßigen Abständen ganze Tage deutschen, also in Jugoslawien gedrehten, mit Schauspielern aus allen Herren Ländern bestückten Spielfilmen – so etwa das sonst so anspruchsvolle 3sat am 12. November. Mit fünf „Western“ – Filmen mit Old Shatterhand, nicht mit Mays orientalischem Alter Ego Kara ben Nemsi – wurde das Publikum behelligt, unterbrochen von zwei James Fenimore Cooper-Verfilmungen. Angesichts einer solchen Präsenz ist es wirklich angebracht, die Bücher des sächsischen Homer einmal kritisch zu begutachten.


    Kramer will den Vorwurf widerlegen, May sei ein Rassist gewesen. Ihm geht um des großen „Reiseschriftstellers“ Verhältnis zum Orient und zu den indigenen Völkern Nordamerikas. Auch der europäische Kolonialismus des späten 19. Jahrhunderts spielt in der Diskussion eine Rolle. Ein anderes Thema böte sich noch zusätzlich an: Insbesondere in den Old Shatterhand-Geschichten gibt es allerlei queeres Volk, bizarr kostümierte Gestalten, oft zwischen den Geschlechtern changierend – wenn ein Herr „Tante Droll“ genannt wird, lässt uns das schon aufhorchen. Aber mit diesen bunten Gestalten in Frauenkleidern beschäftigt sich der Autor, wenn überhaupt, dann nur beiläufig.


    Thomas Kramer, als Literarhistoriker mit einer Reihe von Studien zur Kinder- und Trivialliteratur hervorgetreten, ist noch dazu ein ausgezeichneter Kenner der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Er verteidigt May mit Verve, ohne seinen deutschnationalen Chauvinismus zu überspielen. Allerdings, grundsätzlich falsch findet er es, Karl May in Zusammenhang mit dem Kolonialismus zu bringen oder ihm rassistische Überzeugungen zu unterstellen, wie es der Protest gegen die drei Bücher getan zu haben scheint. Ein großer Teil seines Buches diskutiert die verschiedenen Vorwürfe, und an diversen Beispielen demonstriert er, wie der Autor Figuren charakterisiert und bewertet.


    Schlecht schneidet May besonders in einem Kapitel ab, in dem „Masser Bob“ aus „Old Surehand“ vorgestellt wird, denn diese Figur ist nun aber wirklich die Ausgeburt eines üblen Rassismus: Ein Afroamerikaner, der von sich selbst glaubt, er stinke – deshalb setzt er sich immer abseits hin –, einer, der geistig unterbelichtet ist, weshalb er nur gebrochen sprechen kann, endlich ein Kerl, der zwar riesig und sehr stark ist, sich aber nur ungeschickt zu bewegen weiß. Aber trotzdem wird „Masser Bob“, worauf Kramer großen Wert legt, von Old Shatterhand als ein vollgültiger Mensch behandelt.


    Und das andere große Reizthema dieser Tage, der Antisemitismus? Nach Kramer übernahm Karl May „bestimmte antijüdische Stereotype“, ohne deshalb antisemitisch zu argumentieren (28). Kramer findet rassistische Vorurteile allein in der Darstellung von Armeniern, aber ich selbst erinnere mich noch dazu an die stets negativ dargestellten Perser: kultiviert, sogar elegant, aber falsch bis zur Verlogenheit. Vielleicht also war Karl May kein Rassist, aber ein wirklicher Dichter – ein Erzähler, der uns Individuen vor Augen führt – war er eben auch nicht. Auch seine viel zu ausführlichen Beschreibungen der Kleidung oder des Gesichts – von letzterem kann stets ohne weitere Umstände auf den Charakter geschlossen werden – sprechen gegen die Qualität seiner Erzählungen. Sein Werk ist und bleibt Trivialliteratur, und es könnte falscher nicht sein, als ihn ein „monomanisches Genie“ (86) zu nennen – eine Bezeichnung, die sogleich davon konterkariert wird, dass der Autor ihn nur eine Seite später (und mit etwas mehr Recht!) als einen „Dieter Bohlen für triviale Textmassen“ (87) bezeichnet. Es ist eine von vielen Stellen, an denen deutlich wird, dass das Buch ein Lektorat gut verkraftet hätte.

  • Nicht allein ungenannte „Indigene“, sondern auch Deutsche fühlen sich berufen, May hart und, wie Kramer findet, ungerecht zu kritisieren. Es ist besonders ein Kritiker, von dem er sich provoziert fühlt, ein Hamburger Professor für Globalgeschichte. Jürgen Zimmerer hatte in einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk die Romane Mays als „zutiefst kolonial“ bezeichnet, ohne sie deshalb verbieten zu wollen, und später auch noch ein wenig nachgekartet.

    Thomas Kramer Karl May Porträt COVER


    Kramer sieht das alles ganz anders, und es gibt nicht viele Seiten in diesem Büchlein, auf denen sich keine Polemik gegen Zimmerer findet. Diese ewigen Angriffe ermüden den Leser schon ein wenig, denn inhaltlich bewegt sich die Untersuchung damit nicht einen Zentimeter von der Stelle. Auch die ständigen Verweise auf amerikanische Filmkunst oder gar auf irgendwelche Fernsehserien sind ein wenig zu stark vertreten – Hollywood spielt nicht allein in diesem Buch, sondern auch in Kramers früherer May-Biographie eine übertrieben wichtige Rolle.


    Die Auseinandersetzung mit den Vorwürfen an die Adresse des „sächsischen Lügenbolds“ ist allemal seriös und lässt kaum ein Thema aus. Nun, vielleicht eines. Die von Arno Schmidt unterstellten sexuellen Obsessionen kommen bei Kramer nämlich nicht vor, wenn wir von einer einzigen Anspielung in der Biografie absehen. Aber die Behauptung Schmidts, in den ausufernden Landschaftsbeschreibungen Mays spiegele sich sein Unterbewusstes in Gestalt von „Organabbildungen“ – Hauptthema von „Sitara und der Weg dorthin“ –, wird von Kramer überhaupt nicht behandelt. Dagegen werden sowohl die Behandlung der Sklaverei – in den Western wie in den Kara ben Nemsi-Geschichten – als auch rassistische oder chauvinistische Vorurteile mit großer Textkenntnis vorgestellt und eingeordnet, und gelegentliche Hinweise auf gleichzeitige Literatur kann helfen, das Maß seiner, Mays, Beschränktheit gerecht zu bewerten.


    Kramer hat bereits 2011 eine Biografie Mays vorgelegt, in der er gleich eingangs seinen Kotau vor dem berühmten Buch Arno Schmidts vollführt. In „Sitara“ – laut Kramer „der Beginn einer Karl-May-Forschung, die diesen Namen tatsächlich verdient“ – schlägt Schmidt vor, das Werk Mays als „reinrassiges >Schwulen-Brevier< zu lesen“ (211), eine Anregung, der aber kaum jemand unter seinen Bewunderern folgen mochte, und von den Bewunderern Mays schon einmal überhaupt niemand. Generell wird die These Schmidts, dass die Geschichten in einer „Welt, aus Hintern gebaut“ (112) spielen, von den Fans Karl Mays entschieden abgelehnt und ja auch nicht einmal von Kramer vertreten.

    Arno Schmidt Sitara COVER


    Schmidts „Sitara“ ist unfassbar unterhaltsam – so sehr, dass der Rezensent es im Laufe der Jahrzehnte mehrfach las, oft laut oder leise vor sich hin lachend. Aber Schmidts auf den Einsichten eines gewissen Sigmund Freud beruhende Methodik ist, gelinde gesagt, angreifbar. Nun, diese selbst ja auch… Schmidt versucht zu beweisen, dass Karl May sich seine phantastische Welt erfunden hat, um seine deprimierenden Lebensumstände überhaupt ertragen zu können: Karl May habe sich ein „längeres Gedankenspiel […] zurecht gemacht; wahrscheinlich erfunden zu dem simplen Zweck des Überleben-Könnens in schwierigster Situation, nämlich während seiner rund 8-jährigen Freiheitsstrafen“ (25).


    Trotz aller Einwände gegen die ziemlich merkwürdigen Überlegungen Schmidts: Wer in seiner Jugend Karl May gelesen hat, dem sei das Buch ans Herz gelegt. Der schnoddrige Humor Schmidts gleicht locker alle Mängel dieses wissenschaftlichen Standardwerks aus; und auch die im Übermaß angeführten Belege aus den riesigen Romankonvoluten sind recht erheiternd; sie wären es sogar ohne den Kommentar Schmidts, aber dann mit seinen Randbemerkungen…


    Die Karl May von Schmidt unterstellten Ferkeleien kommen bei Kramer also nicht vor, weder in seiner Biografie noch in seiner Verteidigungsschrift, und die queere „Tante Droll“, der sächsische „Hobble-Frank“ und andere merkwürdig ausstaffierte Mannweiber mussten leider draußen bleiben. Der großen Linie, dem Grundgedanken Schmidts in „Sitara“, mochte Kramer also nicht folgen, aber insbesondere auf den letzten Seiten seiner Biografie tritt er endlich doch dem großen Arno Schmidt zur Seite, nämlich in der Bewertung des Spätwerks von Karl May, in dem dieser dem „letzten Großmystiker“ (319) eine Nietzsche-Lektüre unterstellt. Den „Zarathustra“ soll May gelesen und in seinem Spätwerk verwurstet haben, sogar in Jamben. Na, und wenn schon, möchte man sagen.


    Mit Schmidt hält Kramer vor allem die beiden späten Romane „Ardistan“ und „Dschinnistan“ für große Literatur, und er wird nicht müde, sie mit Tolkiens „Herr der Ringe“ oder den Filmen der „Star Wars“-Reihe zu vergleichen. Aber weder bei diesen Vergleichen noch bei der Bewertung mag ich ihm folgen, denn es handelt sich bei beiden Romanen nicht um große Literatur, sondern um einen bedeutungstriefenden, wilhelminisch überladenen Schwulst. Nach der ersten Lektüre von „Sitara“ griff ich nach „Ardistan“ und „Dschinnistan“, denn der große Schmidt stellte für mich eine wirkliche Autorität dar, und war ziemlich erstaunt, dass der Meister solche metaphysischen Räuberpistolen schätzen mochte.


    In seinem jüngsten Buch entwirft Kramer ein differenziertes Bild von Karl Mays Chauvinismus und seinen von Vorurteilen aller Art nicht ganz freien Schilderungen fremder Völker und Sitten. Allerdings überschätzt er das Talent dieses Autors doch immer wieder gewaltig. Und seine Biografie des Meisters? Sie wird dessen abwechslungsreichem Leben durchaus gerecht, schildert kenntnisreich die Zeitumstände und ist entsprechend lebhaft und interessant.


    Thomas Kramer: Karl May im Kreuzfeuer

    Evangelische Verlagsanstalt 2023

    168 Seiten, Klappenbroschur

    ISBN 978-3374074228


    Weitere Informationen (Verlag)

    Leseprobe (yumpu)


    Thomas Kramer: Karl May. Ein biografisches Porträt

    Herder 2011

    194 Seiten

    ISBN 978-3451062377


    Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Leben, Werk & Wirkung Karl Mays

    Fischer Taschenbuch 1963

    400 Seiten

    ISBN 978-3596137978


    Quelle: https://www.kultur-port.de/kol…rl-may-im-kreuzfeuer.html