Das Geheimnis des Wilhelm Storitz: Die Originalfassung

  • Tach,


    ich habe es inzwischen geschafft den Roman zu lesen. Wie Volker schon erwähnt hat, die maßgeblichen Differenzen zu Michel Vernes Fassung liegen in dem Zeitalter, in dem der Roman spielt, und vor allem in dem Schluß des Buches, bzw. dem letzten Drittel oder Viertel der Geschichte. Der Großteil des Buches ist nicht gravierend anders als die bisher verfügbare Michel - Fassung, erst zum Ende fallen größere Differenzen auf. So scheint mir das Ende des Romans in Michels Fassung etwas ausführlicher und umfassender, in der Originalfassung ist dies kürzer und straffer. Und natürlich fehlt das "Happy - End" - Finale von dem Volker schon sprach.


    Insgesamt aber lesenswert finde ich, nur welche Fassung nun der anderen Vorzuziehen ist - das ist sicherlich eine Geschmacksfrage.


    B.

    :seemann: :baer:


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    I love you, you love me, ja wo lawe ma denn hi??

  • ... wobei mir noch aufgefallen war, dass "Vaters" Variante noch etwas schärfer gegen die Deutschen geschrieben ist.


    Am meisten Kopfschmerzen bei der Logik in beiden Varianten macht mir der Umstand, dass alle Dinge, auch am Körper getragen unsichtbar sind, nach Einnahme des Mittels. Auch bei späterem Wäschewechsel? Hat Myra immer das Gleiche getragen? Zumindest sollte ja öfters mal ein neues Höschen durch den Raum schweben ;)


    Michels Gedanken mit dem Blutverlust will ich mal gar nicht weiterspinnen ...
    :D


    Ansonsten finde ich auch beide Varianten interessant. So wie auch schon der Vergleich bei Onkel Robinson/Geheimnisvolle Insel und die Meteorvarianten.

  • Noch ein Nebeneffekt der originalen Fassung: Auch die geografischen Details sind kompletter und genauer. Daher gibt es etwas Neues:
    :holmes:
    DAS RÄTSEL UM VERNES FIKTIVE UNGARISCHE STADT RAGZ IST GELÖST!
    :]
    Ich hab in "kriminalistischer Kleinarbeit" den realen Ort der hinter der Beschreibung des südungarischen Ortes Ragz liegt, identifiziert. Es ist die serbische Stadt NOVI SAD, gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Namen Ujvidek noch zu Ungarn gehörend. Mehr dazu auf:
    http://www.j-verne.de/verne68_1.html
    Wieder ein Puzzlestein mehr, der die Arbeit Vernes aufzeigt: Optimale Nutzung geographisch realer Quellen als Hintergrund seiner Handlungen....

  • Gratulation, Andreas, eine super Leistung.
    :applaus:
    Prima recherchiert. Wie Schliemann, als er Troja entdeckte. ;)
    Oder, um näher beim Thema zu bleiben, als ob man in Pazin über die Brüstung nach unten schaut. Jedenfalls hast Du die Grenze zwischen Fakt und Fiktion, die Volker in seinem Beitrag zum (int.) JV-Forum Okt. 2005 erwähnte, ein ganzes Stück in Richtung Fakten verschoben.
    http://jv.gilead.org.il/forum/2005/10/0149.html


    Nur etwas noch zum Begriff "mäandrieren". Für mich ist ein Mäander eine Flussschlinge oder -schlaufe und weniger eine Verästelung. Aber genau eine solche Schlinge machte ja die Donau hinter Ujvidek. Das wär's doch! Heute ist die Schlaufe etwas entschärft (google.map), wohl weil sie den Schiffsverkehr gestört hat.


    Viele Grüße
    Norbert

  • ... das ist der Vorteil, wenn andere das Gelesene kommentieren. Stichwort Mäander: Du hast natürlich recht, mein Satz war nicht komplett - das mit den Verschlingungen sollte eigentlich mit rein. Wird beim nächsten Update gleich korrigiert.
    Vielleicht noch ein Nachtrag zum Forumbeitrag Volkers: Wir haben über die Auslegungen des Namens der Stadt diskutiert. Es scheint so wie Volker es geschreiben hat hat wirklich eine Mischung von Fiktion und Wirklichkeit zu sein. Die unterschiedlichen Namensdeutungen aus der Verne-Korrespondenz und auch von D. Compere teile ich nicht ganz so, da ich nicht glaube, dass ein Autor wenn er eine ungarisch/serbische Stadt beschreibt eine Orientierung aus Rumänien oder aus Richtung Zentralösterreich nimmt. Aber wie gesagt: Es ist ein Denkansatz - so richtig erfahren werden wir es wohl nie...

  • Naja, das Anagramm Ragz / Graz ist ein "Minimalpaar" und lag nahe, weil Verne bei seinen Wortspielen meist auf große Ökonomie beschränkt war (vergleiche etwa Nadar / Ardan oder Munbar / Barnum). In einem anderen postumen Roman, "Schöne Blaue Donau" (in Michels Fassung "Der Donaupilot") stammt die Hauptfigur aber aus dem Dörfchen Racz Becse an der Theiss, einem Zufluss der Donau, und es liegt - wörtlich - natürlich nahe, zumal der Roman in zeitlicher Nähe entstanden ist, dass Verne sich bei Ragz an Racz erinnert hat.


    Was das "Mäandern" des Flusses angeht, ist das meines Erachtens eine klare Anspielung auf Amiens, deren Altstadt bei der Kathedrale - da wo das arme Volk in hygienisch unzumutbaren Verhältnissen wohnte - ein "kleines Venedig" bildete (siehe Vernes Beschreibung in "Eíne ideale Stadt"). Heute sind die meisten dieser Kanäle trocken gelegt. Was das Lesen vielleicht ebenfalls anregt: im Haus des Dr. Roderich beschreibt Verne das Haus in der Rue Charles-Dubois, in dem er von 1882 bis 1900 wohnte - sicherlich mit den üblichen Freiheiten, schließlich handelt es sich nicht um eine Autobiografie.


    All diese Bemerkungen stehen aber in keinem Gegensatz zu Andreas' interessanter Identifizierung, was die geografische Lage der Fantastiestadt betrifft.

  • ... das haut doch wieder hin: Das von Volker zitierte "Racz Becse" heisst nichts anderes als "Serbisch-Becse" auch Alt-Becse genannt. Das war vor 1918 ein Bezirk im Kreise Neusatz. Und Neusatz ist heute "NOVI SAD". Ich hatte doch schon in meiner Erläuterung wo Ragz als Name her kommen könnte auf SERBISCH = Racz hingedeutet. Hier noch mal das Zitat von meiner Seite RAGZ:


    Was könnte der Anlass für die Namensgebung „RAGZ“ bei Jules Verne gewesen sein?
    Natürlich interessierte mich die Überlegung, wie Verne auf die Namensgebung "Ragz" gekommen sein könnte. Wichtig für die Romanhandlung ist es, dass die Stadt ein ungarisch klingenden Namen erhalten musste. Was lag näher, als einen Begriff zu wählen, den er öfters im Zusammenhang mit ungarischen Ortsangaben lesen konnte?


    Bei seiner Auswahl der geographischen Vorlage für den Handlungsort seines Romans halte ich den Fakt als besonders bemerkenswert, dass die Stadt ausdrücklich eine ungarische und eine serbische Seite hatte und an den Ufern der Donau lag/liegt. Dies ist fast ein Alleinstellungsmerkmal. Nun hat aber gerade im Ungarischen eine Besiedelung durch Serben eine eigene Namensgebung. Der deutschsprachige Begriff dafür ist Ratzen, in den verschiedenen Sprachen des Balkans und Osteuropas auch Raci, Waren Rác, Rácok, Raizen, Ratzians, Rasciani, Rascians genannt. Dies ist ein Name der verwendet wird, um Serbische Bewohner zu bezeichnen. Der ungarische Ausdruck „Rác“ (sprich: Radsch) wird in Ungarn häufiger verwandt. So werden Kirchen von orthodoxen Serben in Ungarn als Raizen-Kirchen (Rác-templom) bezeichnet und in Budapest gibt es ein Stadtteil „Ráczváros“, der auf seine ursprünglichen Bewohner hinweist. „Ráczváros“ heißt wörtlich übersetzt „Ratzenstadt“ („Varoš“ ist ein ungarischer Begriff für „Stadt“). Die von mir lokalisierte Stadt Novi Sad hatte wie erläutert, auf dem gegenüberliegenden Ufer der späteren Siedlung der Altstadt eine Burganlage, genannt Petrovaradin - heute zu Novi Sad gehörend. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts unter österreichischer Herrschaft war es den Einwohner von Petrovaradin nicht möglich, dort mit orthodoxer Religion Wohnrecht zu erhalten. Damit hatten die Serben keine Möglichkeit Häuser zu errichten. Sie begannen daher 1694 eine neue Ortschaft auf dem linken Ufer der Donau zu bauen, die wie gerade oben erläutert, ebenfalls zuerst den Namen Ratzen-Stadt, „Stadt der Serben“ trug. Wenn der ursprüngliche ungarische Name der serbischen Siedlung von Novi Sad vor der Mischbesiedlung und der späteren Namensgebung Ujvidék ebenfalls „Ráczváros“ war , dann könnte Verne diesen Begriff „Rác“ oder „Rácz“ für dortige Beschreibungen gelesen haben. Gleiches gilt für die anderen genannten Bezeichnungen. Nach dieser Überlegung könnte dadurch die Ideen-Vorgabe für sein „Ragz“ gegeben worden sein. Er hatte damit einen Bezug zu den Serben hergestellt, trotzdem war der Ort noch anonym und er klang ungarisch.


    Aber das sind alles Spekulationen und Denkansätze von mir, die wirklichen Hintergründe werden wir wohl nie erfahren.